Mehr als nur ein Kummerhaufen: Kunst gegen Frauenarmut
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Lilian PithanDie Armut in Europa ist zunehmend weiblich. Das legt zumindest die stetig wachsende Zahl der Frauen in Europa, die unter der Armutsgrenze leben, nahe. Doch die Künstlerinnen des französischen vereins Conciliabules, die allesamt aus sozial schwachen Verhältnissen stammen, wollen nicht länger Opfer sein.
Sie nehmen lieber Farbe und Pinsel in die Hand oder verarbeiten ihre Lebenssituationen auf der Theaterbühne.
Als Sylvie Denisse 2009 eine öffentliche Ausschreibung anlässlich des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung sah, war sie sofort begeistert: „Meine Kollegen haben mir aber davon abgeraten, mich auf Europa einzulassen“, erzählt die Koordinatorin des Vereins Conciliabules („geheime Zusammenkünfte“). „Die meisten meinten, die EU sei viel zu bürokratisch für einen so kleinen Verein.“
Trotzdem wagt Sylvie Denisse den Sprung ins kalte Wasser. Als relativ kleiner Verband - sowohl was die Anzahl der Mitglieder als auch der Zielgruppe angeht - stellen die 1997 gegründeten Conciliabules ein einzigartiges Projekt dar. Schließlich handelt es sich bei diesem Verein nicht um einen am Schreibtisch entworfenen „Beamtentraum“, sondern die Ideen kamen vielmehr direkt von den Betroffenen. Die meisten waren oder sind immer noch Bewohnerinnen der Centres d'Hébergement et de Réinsertion Sociale femmes-enfants (CHRS) (Wohnzentren für soziale Integration von Frauen und Kindern) im Département Rhône-Alpes.
Auch ohne die genauen Einzelheiten der Lebensläufe dieser Frauen zu kennen, wird schnell klar, dass sie sich alle in einer von Armut und Ausgrenzung bestimmten Lebenssituation befinden. Viele sind alleinerziehende Mütter und nicht selten Opfer von häuslicher Gewalt. Aber die Conciliabules sind mehr als nur ein „Kummerhaufen“. Schon vor 13 Jahren bot der Verein Frauen die Möglichkeit, an Kunstprojekten teilzunehmen. In deren Anschluss beschlossen die neu entdeckten Künstlerinnen, ihre Erfahrungen in weiteren Wohnzentren im Rhône-Gebiet zu verbreiten. Daraus entwickelte sich schnell der Wunsch, die so entstandenen Kunstwerke in der lokalen Kunstszene zu verankern und Frauen aus sozial schwachen Verhältnissen eine neue, künstlerische Ausdrucksmöglichkeit zu bieten. Doch taugt die Kunst als Waffe gegen Armut und soziale Ausgrenzung?
Nicht länger Opfer, sondern Kunstschaffende sein
Im Europäischen Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung kann Europa nicht länger die Augen vor der wachsenden „Verweiblichung“ der Armut verschließen. Die von der Europäischen Frauenlobby veröffentlichten Zahlen lassen daran keinen Zweifel: Teilzeitarbeit, Alleinerziehende, Arbeitslosigkeit, ungleiche Gehälter - alle diese Probleme, die meist den Weg in die Armut bereiten, betreffen in Europa vor allem Frauen. „Was Armut und soziale Ausgrenzung betrifft, befinden sich Frauen in allen Risikogruppen und in den meisten Fällen ist ihr Anteil größer als der von Männern“, fasst die Europäische Frauenlobby zusammen. Doch die Conciliabules wollen sich bewusst von den Lobbyisten absetzen und das Problem anders angehen: „Wir befassen uns gerade nicht mit Gewalt gegen Frauen oder schwierigen Lebenssituationen, denn wir sprechen uns bewusst gegen die Einnahme der Opferrolle aus. Wir fordern vor allem, dass das enorme künstlerische Potenzial der Frauen, die aus sozial schwachen Verhältnissen stammen, endlich anerkannt wird.“ Und da gibt es einiges zu tun! Nachdem der letzte Vorhang des Theaterstücks "Clair de Terre" („Erdenschein“), einer Hommage an den Lyoner Anthropologen François Laplantine, gefallen ist, zeigt sich ein Zuschauer verwundert: „Ich hätte ja nie gedacht, dass das so gut wird!“ Existiert der Graben zwischen Amateuren und Profis vielleicht doch nur in unseren Köpfen?
Eine offene Tür für Amateurinnen mit Niveau
Wenn das Theaterstück trotz allen Unglücks, das die Schauspielerinnen ertragen mussten, am Ende doch „gut“ wird, dann liegt das zum Großteil an professionellen Künstlerinnen wie Helen Ginier-Gillet, die die Conciliabules seit 1997 als Regisseurin begleitet, der Erzählerin Martine Caillat oder den bildenden Künstlerinnen Anne-Marie Naudin oder Katy Ollif, die einzelne Kunstprojekte leiten. Doch partizipative Demokratie hat ihren Preis und die Projekte existieren nur Dank der individuellen Motivation und der Kraft, die die Mitglieder der Conciliabules trotz ihres schwierigen Alltagslebens noch aufbringen können. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Als das Stück "Clair de Terre" 2004 uraufgeführt wird, sind die Angestellten einer belgischen Frauenklinik derart begeistert, dass sie die Amateurschauspielerinnen nach Ath in Belgien einladen. Wichtigste Inspirationsquelle auch für dieses Theaterstück war dabei die Lebenssituation der einzelnen Frauen. So befasst sich die Ausstellung "Les chaises" („Stühle“) beispielsweise mit der Möglichkeit, aus Abfall etwas Schönes zu kreieren: „Metaphorisch steht dieser Abfall auch für die Frauen, die von der Gesellschaft „weggeworfen“ worden sind, mit ihren Kunstwerken aber zeigen, dass sie die Ablehnung der Gesellschaft überwinden und wieder in voller Schönheit in sie eintreten können.“
Subventionen: die europäische Schwerfälligkeit
Das Europäische Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung scheint für die Conciliabules also wie gemacht. Die 15.000€ Spenden, die ihnen versprochen worden sind, sollen vor allem dafür eingesetzt werden, ein „singendes Buch“ zu erstellen, das die letzten 13 Jahre des Kunstschaffens in den sechs Wohnzentren zusammenfassen soll. Außerdem sind eine Ausstellung mit dem Titel Décollage („Abflug“) und das Theaterstück Bulles d’Elles (in etwa: „Ihre Luftblasen“) in Planung. Aber mittlerweile ist schon April und bis auf eine E-Mail ist noch nicht viel bei den Conciliabules angekommen. 30% der Summe sollen im Juni überwiesen werden, der Rest im Laufe des Jahres. Eigentlich hatte Sylvie Denisse das schon erwartet. Aber auch wenn die Koordinatorin der Conciliabules die Heuchelei hinter dem Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung bedauert, da auch im Jahr 2010 weiterhin eine Politik, die zur gesellschaftlichen Ausgrenzung führe, betrieben werde, schätzt sie die Initiative sehr: „Auf diese Weise kann man das eigene Projekt ganz gut bekannt machen." Die Zeit der Amateurinnen ist gekommen.
Frauenarmut in Europa
- Ein Drittel der Familien Alleinerziehender, die Mehrzahl davon Frauen, lebt unter der Armutsgrenze.
- Frauen sind über alle Altersgruppen hinweg stärker von Armut betroffen als Männer.
- Die Erwerbstätigenquote der Frauen zwischen 55 und 64 Jahren beträgt 36,8%, also 18,2% weniger als die der Männer gleichen Alters.
- Seit Mai 2009 ist die Arbeitslosenzahl der Frauen (9,3%) erstmals niedriger als die der Männer (9,7%). Aber die Erwerbstätigenquote der Frauen beträgt weiterhin nur 58,7% gegenüber 71% bei den Männern.
- Frauen arbeiten in Europa viermal häufiger in Teilzeit als Männer. Ungefähr 30% der Frauen im arbeitsfähigen Alter und mit familiären Verpflichtungen sind entweder arbeitslos oder arbeiten in Teilzeit. Diese Quote wächst in Spanien und Griechenland auf 60% an, in Lettland und Rumänien beträgt sie sogar 80%.
- In allen Staaten der EU, mit Ausnahme von Litauen, Ungarn, Polen, Rumänien und Finnland, ist die Zahl der Frauen, die in einem Haushalt mit geringfügigem Einkommen leben, höher als die für Männer.
Translated from Conciliabules: L'art, bulle d'air des femmes précaires