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Mazedonien: Antigone und Twitter für die Aufklärung des Mordes an Martin Neskocki

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Am 16. August wäre Martin Neskocki 22 Jahre alt geworden. Zwei Monate vorher, am 5. Juni 2011, starb er in den Armen von Igor Spasov, Bodyguard des mazedonischen Ministerpräsidenten. Während die Autoritäten noch immer versuchen den Mord zu vertuschen, machen neue Aktionsvorschläge in den sozialen Netzwerken die Runde. Zwei Monate später bleiben von den Empörten jedoch nur noch eine Handvoll übrig.

Am 18. Juli spielten sie nun eine aktualisierte Version der griechischen Tragödie Antigone im Zentrum von Skopjes. Eine Reportage in 5 Akten.

Der Parodos (Eingangsgesang)

Der Aktivisten-Chor, allesamt zwischen 20 und 30 Jahren alt, sitzt auf den Rundtreppen aus Stein, hinter dem Mutter TeresaDenkmal (geb. in Skopje). Es ist schwül an diesem Julinachmittag. Die Stimmung ist kurz vor der Aufführung der Antigone recht locker, selbst wenn es dem Beobachter nicht schwer fällt die vier, in Warnwesten gekleideten Polizisten in der Nähe zu bemerken. "Sie kommen und gehen zur gleichen Zeit wie wir", erklärt Vangel Beshevski, freier Journalist und Direktor des Verlagshauses Slovo. "Die in zivil sitzen vor dem Denkmal…"

Skopje„Hat jeder den Text?“ unterbricht Miroslav Petkovik entschlossen die Unterhaltungen. Der Student der Theaterakademie hat die Adaptierung und die Regie der Antigone nach der „mazedonischen Gesellschaftsvision“ gestaltet. Sowohl im Stück als auch in der Realität haben die Jugendlichen nur ein einziges Anliegen: „die Ignoranz der Mächtigen gegenüber der Stimme der Bürger zu stoppen“, erklärt  Vasko, mitte zwanzig und Informatiker. „Wir fordern hiermit offiziell den Rücktritt der mazedonischen Innenministerin, Gordana Jankulovska, und des Sprechers des Ministeriums, Ivo Kotevski, der den Mord vertuscht hat.“

Die Episoden

"Ich hatte Angst. Wie Müll haben sie ihn von der Bank geschmissen.“

Martin überquert den Platz. Gleich hinter ihm folgt Igor Spasov. Der Erste stolpert über die Kabel, der Zweite fängt ihn auf. Dann schlägt er ihn ins Gesicht und tritt ihn. Er hört erst dann auf, als Martin sich nicht mehr rührt. Er versucht ihn zu wecken. Er zieht ihn bis zur nächsten Bank. Schließlich werfen sie ihn zu Boden und rufen den Notarzt. Als der Arzt auf den Platz kommt, ruft man: „Er ist schon tot! … Sie können nicht!“. Als die Feuerwehr verschwindet nähert sich ein Polizist einem der Zeugen. „Du hast alles gesehen. Sag uns was geschehen ist!“ "Ich habe nichts gesehen", der Junge neigt den Kopf, dreht sich zur Seite und will sich schnell verdrücken. Einen Monat nach der Tragödie gibt er zu [die Person wollte anonym bleiben]: „Ich hatte Angst. Wie Müll haben sie ihn von der Bank geschmissen.“

Der Mord an Martin am 5. Juni geschah auf dem Hauptplatz mitten im Zentrum der Stadt. Der krönende Abschluss der Tragödie ist, dass Martin ein großer Anhänger der Regierungspartei, der VMRO-DPMNE [Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit, A.d.R.] war, aus deren Reihen auch der Ministerpräsident, Nikola Gruevski, stammt. Aber Igor Spasov, der Bodyguard des Regierungschefs, hat sich nicht für die politischeIdentität des Jungens interessiert. Eigentlich sind nur wenige Mazedonier daran interessiert. In Charshija, dem albanischen Teil der Stadt, höre ich: „Dieser Junge war auf Droge, richtig?“

Der Stasimon (Gesang des Chors)

Die Zeichnung zeigt die Innenministerin Gordana Jankulovska.Die traditionellen Medien des Landes sind politisch sehr einflussreich und der Großteil schreibt regierungsnah. „Ich habeüber Twittervon dem Mord erfahren“, gibt Dejan Velkovski, ein unabhängigerBlogger an, dessen Posts in diesem Fall die Hauptinformationsquelle für ausländische Medien darstellte. Einen Eiscafé in der Hand, befinde ich mich in Begleitung von George Krstevski, Redakteur beim alternativen Magazin OKNO, einer der wenigen Titel, der einen Artikel über Martins Tragödie veröffentlicht hat. OKNO wurde daraufhin als Spion fürs Ausland bezeichnet. „Hier ist es nicht möglich unpolitisch zu sein“, erklärt George. Selbst wenn die letzten Demonstrationen, so die Gesprächspartner, die erste Bürgerinitiative seit Jahren darstellten. Die Demonstrationen, die spontan über soziale Netzwerke organisiert wurden, beweisen, dass die Initiative unabhängig ist. Selbst für die Aktivisten ist es schwierig das politische Stigma außer Acht lassen. „Eine unbekannte Gruppe hatte sich der Demonstration angeschlossen. Ein blondes Mädchen hat sich in den Vordergrund gedrängt und im Namen der Demonstranten geäußert. Kurz danach haben wir erfahren, dass sie die Wahlkampagne der VMRO-DPMNE-Partei fördert“, erzählt mir George. Dejan zufolge sei die politische Allgegenwart ein Erbe der kommunistischen Vergangenheit des Landes. Er hat keine Angst in eine Schublade gesteckt zu werden: „Seit fünf Jahren blogge ich über alles - das juckt mich kein bisschen. Wenn du nichts sagst und deine Meinung nicht äußerst, bist Du nichts weiter als ein Tier.“

Kommos (Klagegesang)

Am 16. August hat Aleksander eine Demonstrationgegen die Brutalität der mazedonischen Polizeiin Gedenken an seinen Bruder Martinorganisiert.

„Am 16. August wäre Martin 22 geworden", betont Aleksander Neskoski, sein älterer Bruder. Ich habe Aleksander erkannt, bevor man ihn mir vorstellte. Aus den Menschenmengen im Stadtzentrum von Skopje sticht er aufgrund seiner außergewöhnlichen Ruhe hervor. „An dem Abend waren wir nicht zusammen. Am gleichen Tag ist meine kleine Tochter geboren.“ Martin hat noch von der Geburt seiner Nichte erfahren. „Es scheint als wäre er sehr glücklich gewesen. Er drückte seine Parteimitglieder und wollte sogar den Ministerpräsidenten umarmen!“ Hat sich Igor Spasov, der während des Jugoslawienkrieges (1991-2011) einer der Tigers-Spezialeinheiten angehörte, in einer unkontrollierten Bewegung auf den Jungen geschmissen? „Einige Jahre früher war Martin Zeuge eines Prozesses bezüglich der polizeilichen Brutalität in Mazedonien geworden. Letztes Jahr wurde das Opfer verprügelt, schon wieder. Martin musste wohl in diesem Fall noch einmal vor der Justiz aussagen. Genau in diesem Moment begann Igor Spasov Martin auf Schritt und Tritt zu folgen - mit Polizeimandat.“ Aleksander drückt seine Zigarette aus. Er redet in standhaften Ton weiter: „Mein Bruder wurde von einem Mann getötet, der einige Momente eher an der Seite des Ministerpräsidenten war. Ich beanspruche lebenslänglich für Igor. Die Regierung ist in dieser Angelegenheit nicht unschuldig. Sie sollte auf Seiten der Bürger stehen und nicht umgekehrt.“

Exodos (Ende)

„In der Tragödie gibt es zwei Könige. In Mazedonien teilen wir die politische Szene auf“, erklärt mit Miroslav, der Regisseur der Antigone (mazedonische Version), am ersten Tag meines Aufenthalts. Sein Blick ist erst, seine hellen Augen ruhen hinter buschigen Augenbrauen. Gekoppelt mit seinem Dreitagebart vermittelt er den Eindruck, er stamme selbst aus einem antiken Roman. Auch beim Inhalieren seiner Zigarette redet er weiter. „Unsere Könige sind stumm.“ Ihr Schweigen ist das ausschlaggebende Drama der Antigone. „Die Antigone ist eine Inspirationsquelle für die Menschen, die von den Monarchen erhört werden wollen. Dennoch wollen sie sie nicht entthronen. In Mazedonien will die Gesellschaft das System verbessern, aber die politische Revolution bezieht sich auf Extremes wie Kommunismus und Faschismus.“ Und genau deshalb erhören die Könige am Ende der Tragödie das Volk und alle Chöre steigen einstimmig auf den Thron. In Skopje allerdings ist die Tragödie damit nicht beendet…

Dieser Artikel ist Teil der cafebabel.com Reportagereihe Orient Express Reporter 2010/ 2011 auf dem Balkan und in der Türkei.

Fotos: Homepage (cc)Mite Kuzevski/flickr; Im Text: ©Aleksandra Sygiel; Twitpic: (cc)Carlos Latuff;

Protest Martin (cc)FOSM; Video: viktorpopovski

Translated from #Martin: młodzi Macedończycy w klasycznej tragedii władzy