Marke Europa: Stiftet der Eurovision Song Contest Gemeinschaft?
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Europa? Ein alternder, undynamischer Kontinent, der an den Rand der globalen Bedeutung rückt und zu allem Überfluss momentan um das entscheidenste Element seiner Verbundenheit, den Euro, kämpfen muss… Kann der Grandprix Einheit schaffen, wo eigentlich keine ist?
Das größte Problem, das die gesamteuropäische Politik mit ihren Bürgern hat, besteht darin, ihnen zu vermitteln, dass Europa eine Gemeinschaft voller Gemeinsamkeiten und keine Gesellschaft nationaler Egoismen ist. Die “Marke Europa” ist schwierig zu vermitteln, gerade weil die Realität von lauter nationalen Interessen geprägt ist. Für viele Europäer ist die europäische Idee inzwischen gleichbedeutend mit einer bürokratischen EU-Verwaltung in Brüssel. Die Marke Europa schrumpft zu einem negativen Vorurteil: Zu einem wuseligen Haufen sowohl überbezahlter als auch weltfremder Plenarsaal-Diskutanten.
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Daran ist das System selbst schuld, oft genug hat es exakt diese Vorurteile bestätigt: Die EU hat kontinuierlich alle Regeln der Markenführung verletzt. Markenführung funktioniert nur über das Bilden von Gemeinschaft, über konkrete und geteilte Ideen, aber niemals über die Vermittlung abstrakter Gesetzkonstruktionen und Abstimmungen über Verträge, die kein Nicht-Jurist durchblickt.
Gemeinsame Regeln, Gesetze, Verwaltung: All das gehört zwingend zu einem funktionierenden Europa. Aber an erster Stelle muss eine Idee stehen. Das klingt sowohl naiv als auch weltverbesserisch, ist aber die einzige gangbare Lösung, um einen so gewaltigen Komplex zu einer schlagkräftigen Einheit zu verschweißen: Niemand kauft einen Porsche, nur um von A nach B zu fahren. Niemand begeistert sich für einen Fußballverein, nur weil er eine gute Möglichkeit bildet, 11 Personen auf einen Rasenplatz zu stellen. Es geht immer um mehr, es geht um eine Idee dahinter.
Eine der wenigen gemeinschaftsbildenden Elemente der Europäischen Union wurden im Zuge des Vertrags von Lissabon bzw. des Scheiterns einer ‚Europäischen Verfassung‘ sogar offiziell eingefroren: Die Europa-Hymne und Flagge … Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies hat vor fast 100 Jahren den Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in seinem gleichnamigen Werk herausgearbeitet: Gesellschaft sei das Abstrakte, das Konstruierte, das Unverbindliche. Gesellschaft sei das Ergebnis von Verträgen. Die Sprache zeige es: Es gibt Aktiengesellschaften, aber niemals Aktiengemeinschaften. Gesellschaft finde in Behörden, modernen Staatsgebilden, Betrieben statt, überall wo eine formale Struktur die Grundlage für eine Organisation bilde: “Gesellschaft ist abstrakte Vernunft”.
Die soziale Energie liegt dagegen in der Gemeinschaft, die von Nähe, Vertrauen und geteilten Vorlieben gekennzeichnet ist. Die Mitglieder einer Gemeinschaft besitzen einen gemeinsamen Lebenszusammenhang, den sie ähnlich wahrnehmen und deuten. Nur so kann sich Identität und Einheit entwickeln. Echte Bindungskräfte existieren nur in der Gemeinschaft, echte Durchschlagskraft entwickelt nur diese soziale Verbindungsform. Streit und Ärger ist dabei nicht ausgeschlossen, jeder Mensch mit Familie und Freunden weiß das. Der übergreifende Konsens hält die Gemeinschaft zusammen.
Für eine gut funktionierende Gesellschaft benötigt man daher zwingend ein gemeinschaftliches Fundament: Wie Gemeinschaft gebildet wird, zeigte vor einigen Tagen der Grandprix de l‘Eurovision, der offiziell Eurovision Song Contest heißt - aber immer der Grand Prix bleiben wird. Millionen Menschen in ganz Europa feiern gemeinsam eine Idee: Den friedlichen Wettbewerb von Sängern aus zumeist europäischen Ländern (die Idee reicht inzwischen etwas weiter als Europa), um die europäische Gesangskrone. Die diesjährigen norwegischen Gastgeber hatten eine tolle Idee und ließen einen kleinen Film drehen, der den gesamten Esprit Europas auf wunderbar einfache Weise fängt: Vereint in Vielfalt.
Europa tanzt gemeinschaftlich, überall anders, aber überall im gleichen Rhythmus. Hier zeigt sich aber auch: Alles Erkennbare ist ausnahmslos einmalig! Es wird nur das wahrgenommen und im Gedächtnis gespeichert, was konkret ist. Eine Verfassung ist immer nur ein abstraktes Konstrukt. Ein Tanz vor den verschiedenen Kulissen Europas dagegen gelebte Realität. Niemals waren wir so Europa, wie am Eurovision-Abend - obwohl der Deutsche sich am Ende besonders freuen durfte. Es wurde gezeigt, wie Marke im Sinne einer sozialen Einheit gebildet wird, wie das Gefühl von Verbundenheit trotz Konkurrenzkampf hervorgerufen wird. Da war selbst die Gewinnerin des Eurovision Songcontest 2010, Lena Meyer-Landrut, für einen Moment nur ein kleines Zeitgeist-Rädchen in einem gewaltigen Getriebe.
Ein Artikel von markenradar.com.
Foto: Lena ©aktivioslo/flickr