Lügen und Vorurteile im Kalten Krieg
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„Die Geschichte wird von Siegern geschrieben“, das ist eine mittlerweile allseits anerkannte Theorie in der Wissenschaft. Die Geschichte der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs kennt jedoch keine Sieger. Es ist die Geschichte der ermordeten Juden, der unterdrückten und ausgebeuteten Tschechen und der vertriebenen Sudetendeutschen. Diese verschiedenen Volksgruppen haben - Jahrzehnte lang durch den Eisernen Vorhang getrennt - die gemeinsame Geschichte ganz unterschiedlich erzählt und eine Darstellung voll von gegenseitigen Anschuldigungen und Vorurteilen geschaffen, die nach dem Ende des Kalten Krieges gemeinsam korrigiert werden musste.
Schon bei der Gründung der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg waren Nationalitätenkonflikte vorprogrammiert. Die Gebiete in Böhmen und Mähren, die mehrheitlich deutschsprachig waren, erhoben Anspruch auf ihr Selbstbestimmungsrecht und wollten sich der Republik Deutsch-Österreich anschließen, oder eine autonome Stellung in der Tschechoslowakei erhalten. Der tschechische Außenminister Edvard Beneš hingegen behauptete, die deutschen Siedlungsgebiete wären zur Selbstverwaltung gar nicht fähig, ein darauf folgender Generalstreik wurde blutig niedergeschlagen.
Unterdrückung und Rassenwahn
Als 1935 die Sudetendeutsche Partei gegründet wurde, deren ideologische Wurzeln zum Teil in der Volkskampfideologie lagen, wurde diese von 68% der Sudetendeutschen gewählt. Die Partei versicherte Adolf Hitler 1937 ihre Loyalität und erhielt von ihm die Weisung keinen tschechischen Lösungsvorschlägen im Nationalitätenkonflikt zuzustimmen, dies war einer der Gründe weshalb Frankreich und Großbritannien einem Anschluss der deutschen Siedlungsgebiete an das Deutsche Reich zustimmten. Der Großteil der Sudetendeutschen begrüßte den Anschluss und die Deutschen wurden in vielen Städten jubelnd empfangen, wodurch auf tschechischer Seite später die Vertreibung der Sudetendeutschen legitimiert wurde.
Durch den Wegfall der deutschen Siedlungsgebiete verlor die von Hitler sogenannte „Rest-Tschechei“ etwa die Hälfte ihres Staatsgebietes und auch die meisten Industriezentren. Die Folge waren große wirtschaftliche Probleme und eine Unterlegenheit gegenüber dem Deutschen Reich, die am 15. März 1939 zur Besetzung der „Rest Tschechei“ führte. Im von da an „Protektorat Böhmen und Mähren“ genannten Gebiet waren Deutsche Staatsbürger, Tschechen jedoch nicht. Der Plan der deutschen Besatzer war es, alle Reichsgegner zu liquidieren und alle „reinen“ Slawen auszusiedeln, oder ebenfalls „physisch zu vernichten“. Lediglich ein Drittel der tschechischen Bevölkerung hielten die Nationalsozialisten für rassenmäßig wertvoll, dieser Teil sollte eingedeutscht werden. Aufgrund zahlreicher Hinrichtungen von Partisanen und Angehöriger verfolgter Minderheiten und der Toten aus deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern beträgt die tschechische Opferzahl des NS-Regimes 122.000 Personen. Zusätzlich wurden mehrere tausend Menschen zwangsumgesiedelt und die tschechische Bevölkerung durch hohe Kriegssteuern und Enteignungen wirtschaftlich ausgebeutet.
Vertreibung und Mord als „gerechte Justiz“
Um das Nationalitätenproblem nach dem Krieg zu lösen, planten die Alliierten schon 1942 eine Aussiedelung der Deutschen aus dem Gebiet der Tschechoslowakei, also war dies keine rein tschechische Idee.
Obwohl tschechische Partisanen ständig verfolgt wurden, kam es zu Kriegsende zu einem Aufstand in Prag, der erst durch die Ankunft Alliierter-Truppen beendet wurde. Die Partisanen Gruppen, die sich nicht auflösten, vertrieben in den darauf folgenden „herrschaftslosen“ Wochen mehr als eine halbe Million Sudetendeutsche, wobei es mehrmals zu Misshandlungen, Hinrichtungen und grausamen Todesmärschen kam. Die Mittäterschaft des Staatsapparats an dieser „wilden“ Vertreibung, (tschechisch: Odsun) wurde lange bestritten, mittlerweile wird aber auf tschechischer Seite eingeräumt, dass auch die Armee daran beteilig war. Nachdem die Armee das Staatsgebiet unter Kontrolle gebracht hatte, begann die staatlich organisierte Vertreibung/Aussiedelung. Dazu wurden Sammel und -Arbeitslager errichtet, welche als Basis zum Transfer dienten. In diesen Lagern waren von 1945-1948 auch Kinder jahrelang eingesperrt und viele ließen dort ihr Leben. Durch die Beneš-Dekrete verloren alle, die 1945 die Staatsbürgerschaft des Deutschen Reichs besessen hatten, die tschechische. 1946 war die Tschechoslowakei ein ethnisch homogener Staat, drei Millionen Deutsche waren vertrieben worden und sudetendeutsche Dörfer waren dem Erdboden gleichgemacht worden als hätten sie nie existiert.
Eindeutige Statistiken über die Menschenverluste der Vertreibung zu erstellen, erwies sich in Folge als sehr schwierig. Während sich in Deutschland offizielle Schätzungen auf 225.600 Personen beliefen, wurde von tschechischen Forschern oft eine verschwindend geringere Zahl angenommen. Erst eine 1997 von einer tschechisch-deutschen Kommission durchgeführte Untersuchung ergab eine realistische Opferzahl von ungefähr 30.000 Personen.
Doch nicht nur Statistiken, auch die allgemeine Beurteilung der Sudetenvertreibung fiel während des Kalten Krieges in Tschechien und in Deutschland oder Österreich völlig unterschiedlich aus und bestand vor allem aus gegenseitigen Anschuldigungen und Schuldzuweisungen. Tschechische Historiker neigten dazu die Unterstützung der Sudetendeutschen Partei und des Anschlusses durch die Sudetendeutschen zu betonen und auf die Gräueltaten während der Besatzung durch das Deutsche Reich hinzuweisen. In Deutschland hingegen berief man sich auf die Missachtung des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker 1918 und auf die Menschenrechtsverletzungen während der Vertreibung. Es gab nur zwei Anschauungen: Entweder wurde die Sudetenvertreibung befürwortet oder als illegale Vergeltung bezeichnet, ein weiterer Kontext wurde kaum beachtet.
Die Wende als Chance zur Aussöhnung?
Erst in den letzten 25 Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhanges wurde sowohl von tschechischen aus auch von österreichischen und deutschen Historikern begonnen neu zu forschen. Durch Zusammenarbeit wurde ein internationaler und objektiver Konsens geschaffen. Die Vertreibung der Sudetendeutschen wird heute von allen Seiten verurteilt, im Hintergrund des Zweiten Weltkriegs aber als erklärbar angesehen. Bei einer gemeinsamen Landesausstellung Oberösterreichs und Südböhmens 2013 wurde die Geschichte der Tschechoslowakei bis 1945 dargestellt. Auch im regionalen Bereich kann durch die Öffnung der Grenze die Geschichte gemeinsam aufgearbeitet werden. So kehren unzählige Vertriebene zurück an die Orte, in denen sie früher gelebt haben, und an welche heute nur mehr einzelne Mauerreste erinnern. Die Rückkehrer bringen Hausnummern und Namensschilder an, um an ihre zerstörten Dörfer zu erinnern und vielerorts arbeitet die tschechische Bevölkerung mit ihnen zusammen. In Glöckelberg in Südböhmen, wo früher ein deutsches Dorf stand, wird beispielsweise ein Museum zum Gedenken an die Vertriebenen betrieben. Österreich und Tschechien haben eine lange gemeinsame Geschichte, die gemeinsam erinnert werden muss, damit sie richtig aufgearbeitet und dargestellt werden kann.