London: Hackney Wick, Fish Island und die dunkle Seite der Coolness
Published on
Translation by:
Juliane BüchnerIn den Londoner Vierteln Hackney Wick und Fish Island tummelt sich das Künstlervolk. 2012 wurden hier die Olympischen Spiele ausgetragen. Die Flaggen wehen jetzt nicht mehr und die Athleten haben sich längst andere Sportplätze gesucht. Aber für die Londoner, die mehr und mehr aus ihren Wohnungen verdrängt werden, wird der Muskelkater wohl länger dauern.
Die Zugtüren öffnen sich und geben den Weg zum nassen Bahnsteig frei. Eine Station vor Stratford bemerkt man sofort den Wandel der letzten Jahre, der typisch ist für den Londoner Osten. Als erstes fallen zwei riesige Buchstaben ins Auge - H und W - angebracht an der Wand einer ehemaligen Fabrik. Sie stehen für die Initialen des Viertels, das einst ein Juwel der britischen Wirtschaft war. Dahinter verbirgt sich ein Labyrinth aus alten Straßen und noch etwas weiter der Fluss Lea, der den Stadtteil Hackney Wick von seinem Zwilling Fish Island trennt.
Fish Island ist diskreter und unauffälliger. Dem Viertel bleiben die neugierigen Touristen und pub crawler aus Hackney Wick erspart. Ansonsten birgt es ähnliche Schätze wie Hackney Wick: Fabriken aus der viktorianischen Zeit, gigantische Lagerhäuser, sogar die älteste Lachsräucherei Londons. Heute hat sich das alles in Gemeinschaftsräume zum Wohnen und Arbeiten und für soziale, künstlerische oder kulturelle Projekte verwandelt. Schließlich bemerkt man auch das olympische Stadium und den ArcelorMittal Orbit-Aussichtsturm, die sich in den grauen Hintergrund der Regenwolken einfügen. Sie sehen aus wie Planeten auf Kollisionskurs, kurz davor, in die alten Viertel zu krachen. Sie sind die Überbleibsel der Olympischen Spiele 2012 in London.
Brot und Spiele
Die roten Buchstaben sind eigentlich ein Ausschnitt aus einem Wandbild, das Coca-Cola als offizieller Sponsor der Spiele in Auftrag gegeben hatte. Es bedeckte die ganze Wand, bis empörte Anwohner das Wort „SHAME“ (Schande) darüberschmierten. Heute ist keine Spur dieser Botschaft übrig (es ist fast unmöglich, ein Bild der beschmierten Wand zu finden, außer hier).
Die Kontroverse wäre ziemlich banal, wenn sie nicht ein viel wichtigeres Problem symbolisieren würde - eines, das die Bewohner von Hackney Wick und Fish Island (HWFI) betrifft. Es ist ein Fall von Gentrifizierung und Machtmissbrauch, wie er im Buche steht. Und das in einer Stadt, die mit großen sozioökonomischen Ungleichheiten zu kämpfen hat.
Traditionelle Industrie bildete einmal den Kern aller Aktivitäten in der Gegend. Hier stehen die Fabriken, in denen der erste thermo-plastische Kunststoff erfunden wurde (Parkesine, später Zelluloid). Als 1980 die Industrie zusammenbrach, leerten sich hektarweise Wohn- und Arbeitsräume. Diese wurden bald besetzt und später wieder in Wohnraum umgewandelt - oft von abgebrannten Künstlern. Es entstand eine Atmosphäre der kreativen Selbstverwaltung, in der eine neue Generation von HWFI-Bewohnern den Grundstein für ein paralleles, sozioökonomisches System legte. Diese Gesellschaft basierte auf den Prinzipien von gegenseitiger Hilfe, Spontanität und Experimentierfreude. Jahrelang brachten sie unter dem relativ gleichgültigen Blick der Behörden Farbe an die Wände der beiden Londoner Viertel. Dann wurden die Olympischen Spiele angekündigt und die Aussicht auf schnellen Profit brachte die Hauptstadt Großbritanniens zum Sabbern.
Das R-Wort ist das neue G-Wort
Vor nur einem Jahrzehnt konnte man oft den Satz hören, dass jeder, der die Bedeutung des Wortes Gentrifizierung kenne, selbst Teil derselben sei. Der Begriff wurde 1964 von der Londoner Wissenschaftlerin Ruth Glass geprägt und ursprünglich in akademischen Zusammenhängen verwendet. Er beschreibt die Sanierung eines Stadtteils und dessen Folgen für die Bewohner, die durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verdrängt werden.
Heutzutage hört man das Wort Gentrifizierung ziemlich oft, meistens in einem anklagenden Tonfall. Deshalb wurde das „G-Wort“ nach und nach aus dem Wortschatz der Bauträger verbannt und durch Wörter mit positiveren Konnotationen ersetzt, wie zum Beispiel „Regeneration“.
In 'Dableiben: Ein Handbuch gegen die Gentrifizierung für gemeindeeigene Wohnsiedlungen in London' (Staying Put: An Anti-Gentrification Handbook for Council Estates in London) wurde Regeneration zweifelsfrei als Beschreibung des gleichen Phänomens erkannt. In dem Ratgeber finden wir zwei Fragen unter der Überschrift „Merkmale [der Gentrifizierung], nach denen Sie auf ihrem Grundstück Ausschau halten sollten“: „Hat ihr Gemeinderat ihr Grundstück als möglichen „Entwicklungsstandort“ gelistet?“ und „Befindet sich ihr Grundstück in einem „Zielgebiet“ des London Plans?“
Soweit es darum geht, HWFI in ein „Zielgebiet“ zu verwandeln, ist eine Studie der London Legacy Development Corporation (LLDC) aufschlussreich - des Zentrums, das für genau diese nach-olympische Regeneration verantwortlich ist. In einem kleinen Kasten steht der Satz: „Wir erwägen derzeit, wie viel bezahlbarer Wohnraum in den Plan integriert werden kann und arbeiten auf ein Ziel von 10% hin“.
Was die wirtschaftliche Erholung angeht, die die Spiele durch die Touristenströme einbringen sollten, so haben die HWFI-Bewohner sehr wenig davon mitbekommen. Die Behörden haben die U-Bahn-Station Hackney Wick während der olympischen Wochen geschlossen, um die Touristen stattdessen nach Stratford zu leiten. Kurz gesagt: für alle, die vor den Olympischen Spielen in HWFI gelebt haben, stehen die Chancen, in ihrer Wohnung zu bleiben, bei ca. 15%, vor allem, wenn die Familie aus mehr als zwei Personen besteht. Es sei denn, man kann sich eine Einzimmerwohnung für 400.000 Pfund leisten.
Tatsächlich besitzt LLDC einen wachsenden Anteil an Land in Hackney Wick. Sie hat dort Planungsvollmächte, die es ihnen erlauben, zu kaufen was ihnen noch nicht gehört. Schuld daran ist die allmächtige Compulsory Purchase Order.
Man könnte dort bleiben und ärmer werden, während die Mieten steigen. Darum kämpfen, über die Runden zu kommen, während ringsum die Leute ihre Frappucinos für 5 Pfund trinken und (fälschlicherweise) den Besitzern dieser Hipstercafés und den Künstlern die Schuld an allen Problemen geben. Dabei sind die Cafébesitzer nur Symptom eines tieferliegenden Mechanismus und die Künstler oft selbst Opfer der Gentrifizierung.
Geschichte wiederholt sich
„Im Allgemeinen suchen Künstler in London niedrigere Mieten als andere Berufsgruppen und soziale Schichten“, so Richard Brown. Seine Affordable Wick-Initiative spricht die Verantwortung der Künstler gegenüber ihrem Umfeld an. „Momentan haben wir ein großes Problem, weil klar ist, dass Künstler und kreative Typen für den aktuellen scharfen Preisanstieg in Hackney Wick verantwortlich sind. Durch Künstler wird so ein Ort ansehnlicher. Sie ziehen eine Wirtschaft an, die für viele langjährige Bewohner nicht erreichbar ist.“
Zu allererst ist es wichtig, die zwei Facetten dieses Phänomens zu unterscheiden. In HWFI ist der offensichtlichste und meist kritisierteste Aspekt das sogenannte „Place Marketing“: ein komplexer Mechanismus, mit dem versucht wird, eine Gegend in eine Marke zu verwandeln, um sie attraktiver zu machen. Dazu werden vor allem „Lifestyle Medien“ benutzt und ganz bewusst moderne Geschäfte eröffnet. Oft sind Künstler bewusst oder unbewusst Komplizen in einem Prozess, der sie früher oder später aus dem eigenen Viertel vertreibt. Angesichts dieser Coolness-Invasion blühen in HWFI unkoordinierte und manchmal schlecht zusammenpassende Widerstandsgesten. Das bekannteste Beispiel dafür ist die berühmte Keep Hackney Crap-Kampagne.
Aber die echten Entwicklungen spielen sich unter der Oberfläche, in weniger glamourösen Formen ab. Dort verursachen die abstrakten Zahlen von Schreibtischtätern sehr reales soziales Leid. Wer aktiv an der Gentrifizierung mitarbeitet, kann sie praktischerweise als Naturgesetz darstellen. So wie die Schwerkraft oder das Wissen, dass in einer Tüte Surimi-Sticks nie eine Spur von echtem Fisch zu finden ist. Die gleichen Leute unterstellen, dass eine verarmte Gegend keine Alternative hätte, als ihre Bewohner im Namen der Regeneration zu vertreiben.
Viele Bewohner von HWFI wünschen sich eine Entwicklung ihres Stadtteils, die bessere lokale Organisation und Fortschritte in der Infrastruktur und Sicherheit mit sich bringt. Aber es ist absurd, dass sie diese Ziele nur erreichen können sollen, indem sie verschwinden. Angesichts dieser städtischen Auslese wird eins klar: Man kann sehr wohl bestreiten, dass hohe Mieten die letzte Bastion gegen ein heraufbeschworenes urbanes Chaos seien. „Widerstand gegen die Gentrifizierung hört schnell auf eine Randerscheinung zu sein und organisiert sich besser“, schreibt Dan Hancox in einer Kolumne der britischen Tageszeitung The Guardian.
Ohne diesen Widerstand wird HWFI den gleichen Weg gehen, wie Shoreditch oder Elephant and Castle vor ein paar Jahren: In diesen Vierteln wurde die Arbeiterklasse gnadenlos vertrieben, um Platz für eine soziale und kulturelle Entwicklung zu machen, die außerhalb ihrer Reichweite lag und verdächtig nach Shopping-Center aussah. Ohne Widerstand werden von dem wundervollen kreativen Chaos in Fish Island bald nur noch ein paar Gräten übrig bleiben.
___
Dieser Artikel ist Teil unserer Reportagereihe 'EUtoo' 2015 zu 'Europas Enttäuschten', gefördert von der Europäischen Kommission.
Translated from Londres : Hackney Wick, Fish Island et l'ombre du cool