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Lissabon-Vertrag = Ein zweites Versailles?

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Libere Paroli

Von Frauke Seebass Die weitreichenden Konsequenzen des EU-Reformvertrages legen die Notwendigkeit nahe, den „Lisbon-Treaty“ noch einmal einer genauen Betrachtung zu unterziehen.

Die “großen Vier” Gewinner des ersten Weltkriegs: David Lloyd George (Großbritannien), Vittorio Orlando (Italien), Georges Clemenceau (Frankreich) und Woodrow Wilson (Amerika) © kg12345

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe prüft zur Zeit die Kompatabilität des Lissabon-Vertrages, den die EU am 13. Dezember 2007 verabschiedet hat, mit dem deutschen Grundgesetz. Der Prozess erregt national und international großes Aufsehen, Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie Vize-Kanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier erschienen höchst persönlich zur Verhandlung, um das EU-Übereinkommen zu verteidigen.

Schon die Liste der prominenten Kläger lässt den Schluss zu, dass es sich keineswegs um eine Lapalie handelt. Neben den Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler und Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg, Sohn des Hitler-Attentäters (beide CSU) sitzt der Vorsitzende der Kleinpartei ÖDP Klaus Buchner, der ehemalige Thyssen-Chef Dieter Spethmann und die Mitglieder des Linken Partei im Bundestag der Anklagebank gegenüber. Und sie haben keineswegs vor, ihre schweren Anschuldigungen im Keim ersticken zu lassen. 

Sie werfen dem Reformvertrag, der eine gescheiterte EU-Verfassung ersetzen soll, Verfassungswidrigkeit vor, da sich die EU durch die geplanten Kompetenzerweiterungen alle relevanten Politikfelder zu eigen machen könne. Darüber hinaus sei sie in der Lage, sich selbsttätig neue Kompetenzen zu schaffen, da mit einer Ratifizierung des Vertrages durch alle 27 Mitgliedsstaaten beinahe das vollständige Vertragswerk der Union dem eigenen Ermessen obläge.

Von Karlsruhe gehe die Kontrolle über die deutschen Grundrechte direkt nach Luxemburg, prognostizieren die Kritiker weiter, ein Juristischer Gutachter prophezeite die zukünftige Rolle des Bundestages im Gespräch mit der Financial Times Deutschland (FTD) „Erfüllungsgehilfe“. Und gerade das Europäische Parlament als einziges direkt von den Völkern gewähltes Gremium weise trotz einer Kompetenzerweiterung immer noch starke Defizite auf.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier wies diese Vorwürfe zurück und verteidigte die Kompetenzerweiterung. Seiner Meinung nach ist sie die „notwendige Antwort auf unabweisbare Zukunftsaufgaben“ der EU, wie die FTD berichtete. Auch Kanzlerin Merkel beharrt: „Die Geschlossenheit Europas ist ein hohes Gut.“ Daher gelte es, eine gemeinsame Entwicklung und damit Europas Einheit zu fördern. Die Opposition, namentlich die Kläger von Karlsruhe, hofft dagegen, eine Nachverhandlung des Reformvertrages durchsetzen zu können, um eine eindeutige Regelung und Differenzierung der nationalen und supranationalen Kompetenzen zu erreichen. Soweit wird es aber nicht kommen, befürchten einige Beobachter. Die Bestätigung der Anklage könne im schlimmsten Fall gar „das Ende der EU“ bedeuten, heißt es aus der SPD.

Tatsächlich sind die Deutschen nicht die ersten, denen Unstimmigkeiten am Hochgelobten „Plan B“ nach der Ablehnung einer EU-Verfassung durch Frankreich und die Niederlande aufgefallen sind. Auch in Tschechien hatte sich eine Opposition gegen den Reformvertrag gebildet, deren Klage jedoch abgewiesen wurde. Nachdem das tschechische Verfassungsgericht im Februar 2009 also grünes Licht gegeben hatte, gewannen die Volksvertreter in Brüssel wieder Oberwasser. In Deutschlands Nachbarland dagegen herrschte keineswegs traute Einigkeit.

Staatschef Vaclav Klaus verglich die Europäische Union mit einer supranationalen Diktatur, die durch Lissabon noch gestärkt werde. Deshalb lehnte er eine Unterzeichnung des Vertrages, obgleich es sich nur noch um eine reine Formsache handelt, vor der endgültigen Ratifizierung Irlands ab. Die Iren hatten als einzige Nation eine Volksabstimmung durchgeführt, anstatt über die geplanten Reformen im Parlament zu diskutieren. Mit einer kleinen aber im Endeffekt deutlichen Mehrheit hatte sich das irische Volk gegen die Neuerungen entschieden und somit der geplanten Inkraftsetzung am ersten Januar 2009 einen Riegel vorgeschoben.

Die Analyse der Wahlergebnisse auf der Grünen Insel ergaben, dass die Ablehnung des Lissabon-Vertrages alle Schichten und Altersklassen durchzieht und der Ausgang somit tatsächlich die Gesamtheit der irischen Bevölkerung repräsentiert. Das kleine Land hat Angst davor, seine Freiheit zu beschneiden und möglicherweise seine Souveränität zu verlieren. Dies zeigte sich schon 2001 während der Verhandlungen des Vertrages von Nizza, den die Iren ebenfalls zunächst abgelehnt hatten, anschließend jedoch ihr Urteil revidierten. Sie bestehen auf eine deutliche Betonung der militärischen Neutralität ihrer Nation und fürchten, diese sei durch eine gemeinsame Verteidigungspolitik gefährdet.

Natürlich ist gerade die Tatsache, dass Irland als einziges EU-Mitgliedsland eine Volksabstimmung durchgeführt hat und diese zur Ablehnung führte, in der Öffentlichkeit ein Schlag ins Gesicht der Union. Deshalb bemüht man sich nun in Brüssel, den Iren Zugeständnisse zu machen, um bei einer Neuwahl, die bis Herbst 2009 stattfinden soll, ein positives Ergebnis zu erzielen. Dazu gehört die Gewährleistung der Neutralität sowie die Aufhebung der geplanten Reduktion der 27 EU-Kommissare auf zwei Drittel, wodurch eine effektivere und schnellere Arbeit auf Kosten der Demokratie des Staatenbundes hervorgerufen werden sollte, da in einem der mächtigsten Organe der EU nach Lissabon nur noch 18 von 27 Mitgliedsstaaten vertreten sein sollten.

Außer der Unterschrift Irlands fehlen nur noch die Zustimmung Polens und Tschechiens, beide allerdings nur noch Formalitäten, da die nationalen Parlamente den Vertrag bereits ratifiziert haben, sowie Deutschlands Anerkennung der Reformen. Obgleich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die voraussichtlich im Frühsommer bekannt gegeben wird, mit Spannung erwartet wird, ist nichts desto trotz Irland zum Sündenbock der Union geworden, deren Krise durch die Ablehnung noch verstärkt wird. Schließlich war Lissabon schon Plan B, weitere scheinen nicht in Brüssels Schubladen zu ruhen.

Aber worüber diskutieren die Politiker in nationalen und internationalen Parlamenten überhaupt? Was bedeuten die Reformen konkret?

Der Lissabon-Vertrag stellt eine Abänderung des Vertrages von Nizza dar, der die gegenwärtige Rechtsgrundlage der EU bildet. Weil durch die stetige Erweiterung der Union, zunächst um 10 Staaten im Jahre 2004 und 2007 noch um die Länder Bulgarien und Rumänien, neue Anforderungen an das politische System der EU gestellt werden, sind Reformen unabdingbar. Mit 27 Kommissaren wird der Staatenbund zusehends handlungsunfähig, die Zuständigkeiten werden immer weiter unterteilt und Prozesse innerhalb der EU werden langwierig und ineffektiv.

Deshalb soll der Vertrag von Lissabon das politische System der EU strukturieren und sicherer, handlungsfähiger und demokratischer machen. Die Staatengemeinschaft soll gestärkt werden, die Aufgabenbereiche ausgeweitet. Auch sieht der Vertrag eine stärkere Einbeziehung der Mitgliedsstaaten in der supranationalen Arbeit vor. Darüber hinaus konzentriert er sich auf eine innere Stärkung. Deshalb soll das Europäische Parlament an Macht gewinnen und in alle wichtige Entscheidungen miteinbezogen werden.

Dadurch, dass das System der Einstimmigkeit in vielen Bereichen von Mehrheitsbeschlüssen abgelöst wird, sollen schnellere Entscheidungsprozesse gewährleistet und nationale Alleingänge verhindert werden. Trotzdem können die Parlamente der einzelnen Länder Einspruch gegen EU-Gesetze erheben. Insgesamt versprechen die Befürworter des Reformvertrages mehr Transparenz und eine strukturiertere Aufgabenverteilung innerhalb der einzelnen Organe.

Um die Gemeinschaft zu stärken, betont der Vertrag den Zusammenhalt in Krisensituationen. Außerdem ist mit der endgültigen Verabschiedung die Grundrechtscharta für jeden Mitgliedsstaat rechtsverbindlich. Durch einen gemeinsamen EU-Außenminister soll der Staatenbund vor Drittländern vertreten werden.

Das alles klingt unterstützenswert, dennoch sorgen die Änderungen für Diskussionen und Konflikte. Hauptkritikpunkt dabei ist der Vorwurf, der Lissabon-Vertrag sei nur die abgeschriebene EU-Verfassung in neuem Gewand. Und tatsächlich sind die beiden Dokumente nahezu identisch; ein Großteil der gescheiterten Verfassung wurde schlicht übernommen, allerdings auf höchst komplizierte Weise abgeändert.

Diesen Ansatz griff auch der fraktionslose Bundestagsabgeordnete Henry Nitzsche in seiner Rede im April 2008 auf. Vor dem Bundestag verurteilte er den so genannten Reform-Vertrag heftig und scheute sich nicht, die deutsche Europapolitik als durch und durch volksfeindlich und wider den Prinzipien der Verfassung anzuprangern. Außerdem bot er einen Überblick über die tatsächlichen Konsequenzen des Lissabon-Vertrages für Deutschland, die teilweise einigen Punkten aus dem Gutachten der Ankläger von Karlsruhe entsprechen.

So beklagte er das offene Übergehen der deutschen Bevölkerung besonders in Europafragen, was allerdings nach aktuellem Stand wohl schon dem „europäischen Konsens“ entspräche. Schließlich haben Frankreich und die Niederlande, nach den gescheiterten Volksabstimmungen bei der Frage nach einer EU-Verfassung, die Lissabon-Ratifizierung intern geregelt, ohne das Risiko eines Neins der Bevölkerung einzugehen.

Diese Methode sei in Deutschland längst Gang und Gäbe, so Nitzsche. Weder bei der Frage nach der Einführung des Euro, noch in der Diskussion um die Erweiterung des Schengen-Raums im Dezember 2007 habe man es für nötig befunden, die Deutschen nach ihrer Meinung zu fragen. Und das aus guten Grund. Denn zu einer Ratifizierung, da ist sich Nitzsche sicher, wäre es bei einem Volksentscheid in keinem der beiden Fälle gekommen.

Allein der gängige Name „Reformvertrag“ sei ein blanker Euphemismus, so der Abgeordnete weiter. Denn im Endeffekt „winke man nur das Kind nur unter anderem Namen durch“, so Nitzsche. Und die Klage beim Bundesverfassungsgericht werde schließlich nicht ohne Grund ernst genommen. Schließlich muss man sich klar machen, um was es bei diesem Vertrag geht.

Es handelt sich um eine verbindliche Verfassung für über 500 Millionen Menschen. Deshalb darf und muss die demokratische Legitimation des Lissabon-Vertrages in Frage gestellt werden. Gerade wenn sie Verordnungen enthält, die den Rat der Europäischen Union ermächtigen, beinahe das vollständige bestehende Unionsrecht zu ändern und damit Einfluss auf nahezu alle politischen Bereiche der 27 Mitglieder auszuüben! Dazu ist nicht einmal mehr die Zustimmung des Europäischen Parlaments notwendig, des einzigen direkt von den Bürgern gewählten Organs, dessen angebliche Kompetenzerweiterung sich in diesem Punkt als Hütchentrick herausstellt.

Auch die Möglichkeit zur Schaffung europäischer Steuern werde im neuen Vertrag eingeräumt, deckte Henry Nitzsche auf, und wenn diese Möglichkeit gegeben sei „werde sie auch genutzt“, ist er sicher.

Und wo bleibt das Mitspracherecht der nationalen Parlamente? Wo die Volkssouveränität?, fragt er sich. Das Subsidiaritätsprinzip, nach dem die EU nur eingreift, wenn sie als supranationale Institution wirkungsvoller ist als der jeweilige Nationalstaat, soll durch den Reformvertrag angeblich unterstrichen werden. In Wirklichkeit handle es sich dabei um nichts weiter als eine bürokratische Farce, legte Nitzsche dar. 

Demnach ist nämlich im Vertrag von Lissabon festgelegt, dass der Bundestag Entwürfe von Europavorschriften auf Verletzungen der Subsidiarität überprüfen und innerhalb von acht Wochen Beschwerde in Brüssel einlegen kann. Anschließend seien sie jedoch nicht mehr ermächtigt, die Entwürfe anzuzweifeln. Angesichts der Masse von Entwürfen und der Tatsache, dass nicht nur Bundestag, sondern auch Bundesrat und Landtage der Beschwerde zustimmen müssten, so Nitzsche,  reduziere sich das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip auf einen bürokratischen Witz.

Und selbst das einzige Gremium in der EU, welches demokratisch von den Bürgern aller Mitglieder gewählt wird, entspreche nach Lissabon noch weniger dem Prinzip eines gleichen Wahlrechts und stehe in keinem Verhältnis zur Bevölkerungsdichte der Staaten. Denn obgleich 20 Prozent der EU-Bürger in Deutschland leben, sind im Parlament nach dem Reformvertrag nur 93 Sitze für die Bundesvertreter vorgesehen. Laut Nitzsche müssten es aber in Anbetracht der Bevölkerungsverteilung mindestens 150 sein. Damit widerspreche es eindeutig der Formulierung aus Artikel 20 des Grundgesetzes: „Alle Gewalt geht vom Volke aus“. Denn auch in der Europäischen Kommission entscheiden 27, und damit 26 nicht-deutsche, EU-Kommissare über essentielle Fragen, die jeden einzelnen Bürger innerhalb der Europäischen Union betreffen.

Über deutsche Interessen werde also ungehindert in Brüssel entschieden, die Bundesregierung müsse Entscheidungen der EU hinnehmen und sich als der mit Abstand größte Geldgeber der Union mit einem der Größe der Bevölkerung keineswegs angemessenen Mitspracherecht zufrieden geben. Und das alles für eine gestärkte Einheit?

Unter diesen Bedingungen, schloss Nitzsche, um die Sicherheit und Souveränität nicht nur des deutschen Staates sondern auch seiner Bürger zu gewährleisten, dürfe dieser Vertrag in seiner gegenwärtigen Form unter keinen Umständen in Kraft treten. Denn dann, so prophezeite Henry Nitzsche unter allgemeinem Protest, würde Deutschland sich selbst ein „zweites Versaille“ schaffen.

Fotos:

United States of Europe (leo 980 /flickr)

"Vote Yes" Man & Woman (Nadia Hristora/flickr)

La Faucheuse de Versailles (David Reverchon/flickr)