Lissabon: Im Land der Nomaden
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Selina GlaapSie sind überall in Lissabon: auf den Terassen der Cafés, in den Coworking Spaces oder am Strand, um nachmittags surfen zu gehen. Die Rede ist von digitalen Nomaden, die gern reisen, das Leben genießen und nur Luft und WLAN benötigen. In Lissabon sind sie mittlerweile genug, um fast eine Parallelgesellschaft zu bilden.
Sie reiten per Pferd durch die zentralasiatische Steppe. Oder in Somaliland zwischen Stadt und Sand. Sie tauchen am Korallenriff in Madagaskar entlang. Oder sie zelten auf den leeren Flächen Nordafrikas oder in bisher wenig erforschten Gegenden von Amerika. In unserer Vorstellung sind Nomaden zwar ohne festen Wohnsitz, aber sie sind vor allem eines - weit weg. Denn das Nomadenleben ist exotisch. Egal, ob es um das viel vermarktete surrealistische Nomadenleben des französischen Sommerhits 'Yakalelo' aus den Neunzigern geht, oder das andere, eher verinnerlichte Nomadenleben bei einem netten Wochenende in einer Jurte - das Ganze nur einen Easyjet-Flug entfernt.
Aber was machen Nomaden in den europäischen Großstädten? Die Rede ist hier nicht von beduinischen oder mongolischen Hirten, sondern vielmehr von denjenigen, die mit ihrem Laptop und Post-its bewaffnet die Cafés stürmen. Einigen wir uns darauf: Die Nomaden heutzutage sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Die digitalen Nomaden, die Ende der 1980er Jahre noch einzelne Wegbereiter waren, sind in den letzten zwei Jahren zur Norm geworden und stellen mit den Charakterzügen eines arbeitstüchtigen Avatars des 21. Jahrhunderts unsere Vorstellungen auf den Kopf. Denn digitale Nomaden sind alles andere als Backpacker 2.0. Sie sind vor allem eins: Arbeitstiere. Da ihr einziges Werkzeug aber eine (gute) Internetverbindung ist, sind sie auf Reisen, und zwar immer und überall.
„I love my life“
Aber auch wenn er ein Nomade ist, muss der Mensch 2.0 sich irgendwo niederlassen. Wenn es in diesem Spätsommer 2017 einen Place-to-be (-but only-for-two-weeks) für digitale Nomaden gibt, dann ist es Lissabon. Die portugiesische Hauptstadt organisiert zwei Veranstaltungen, die sich mit genau diesem Lebensstil auseinandersetzen. Eine davon ist die Digital Nomad Conference, die von DNX organisiert wird. Es ist eine der noch jungen Organisationen, die neue Nomaden begleiten, ermutigen und coachen sollen. Wer hinter der Veranstaltung steckt? Felicia Hargarten und Marcus Meurer, zwei dreißigjährige Deutsche, die aus Brasilien gekommen sind, um Inspirationsworkshops mit praktischem Know-How für fast 600 Nomaden aus 45 verschiedenen Ländern zu organisieren.
Eine ehemalige Textilfabrik, LX Factory, die Anfang 2010 in ein Paradies der kreativen Oberschicht (mit Boutiquen, Restaurants, Coworking Spaces und Start-up-Lokalen, einer Kochschule etc.) umgebaut wurde, empfängt die digitale Horde. Im mysteriösen Halbdunkeln des modernisierten, aber alten Schuppens wird das Wochenende unter dem Instagram-Slogan „I love my life“ eröffnet. Bei einer kurzen Eröffnungsrede erklären Marcus und Feli ihren Werdegang als Location-Independent-Unternehmer und erzählen, wie sie während ihres Sabbatjahrs bemerkten, dass sie auch beim Reisen weiter arbeiten könnten.
Pat Flynn, ein bekannter amerikanischer Podcaster im Unternehmercoaching, bekommt nun das Wort. Er erzählt von seinem „perfekten Leben“ und allen Konventionen, von denen er sich verabschiedet hat, um die Zukunftsangst besser zu spüren, seine Komfortzone zu verlassen und am Ende Erfüllung zu finden. Nach einer Icebreaker-Sitzung, bei der man seinem Nachbarn erzählt, worauf man besonders stolz ist, und einer Meditation kommen weitere Redner auf die Bühne: der Ex-Direktor für Digitales in Estland zum Beispiel, der die Vorteile des E-Wohnsitzes aufzählt. Dieser ermöglicht es digitalen Nomaden, einen virtuellen Wohnsitz anzumelden und darüber beispielsweise ein Unternehmen zu gründen oder Patente anzumelden. Ohne, dass man einen festen Wohnsitz vorzuweisen hat. Unternehmer, Coaches und jene, die für eine halbe Stunde freiwillig zum Guru werden, alle Redner betonen den unkonventionellen Aspekt des Lebens eines digitalen Nomaden, die innere Stärke, die man benötigt und die Öffnung sich selbst und der Welt gegenüber, die es ermöglicht.
Ein Arbeitscamp der coolen Sorte
Aber wer von seiner Öffnung gegenüber der Welt redet, spricht gleichzeitig von geografischem Name-Dropping. Eine 25-jährige Deutsche mit Flip-Flops und einem Band um den Knöchel, in schwarzer Leggins und Karoshirt trägt eine Tasche mit der Aufschrift „Berlin, Sydney, Bangkok, Dahab“. Ein 22-jähriger Niederländer, der gerade sein Grafikstudium abgeschlossen hat, ist nach einer mehrmonatigen Testphase zwischen Backpacking und Arbeitssessions nun bereit, digitaler Nomade zu werden. Er war auf Bali, in Nepal, Osteuropa. Man zeigt immer, wo man bereits war; führt Gespräche über seine Ziele: Die Welt ist eine Checkliste, die man abarbeitet.
Laut Marcus und Feli sind die Nomaden „Menschen, die Freiheit mögen, gerne reisen, offen sind und Erfahrungen sammeln wollen. Die die Welt verändern wollen und im traditionellen Arbeitsleben von 9-17 Uhr nicht glücklich wären.“ Die beiden Organisatoren bieten auch zweiwöchige Camps auf der ganzen Welt und insbesondere an außergewöhnlich schönen Orten an - das nächste Camp findet auf Limnos, einer sehr gastfreundlichen Insel im Ägäischen Meer statt. Sie haben keine Angst davor einen Mythos über den digitalen Nomaden zu schaffen, der mit seinem Computer am Wasser sitzt und zwischen zwei Skype-Telefonaten mit seinen Kunden eine Yoga-Pause einlegt. Denn: „Man kann jeden Teil seines Lebens als digitaler Nomade verbringen“. Es gibt auch Digitale-Nomaden-Familien mit kleinen Kindern. Es ist ein Beweis dafür, dass eine gewisse Stabilität auch bei einem bewegten Lebensstil möglich ist.
„Warum denn auch nicht? Wenn man diesen Lebensstil mag, warum sollte man damit aufhören?“, fügt Feli hinzu. Für sie ist das Wichtigste, „Leute zu finden, die die gleiche Einstellung haben wie man selbst“. Viele digitale Nomaden leben nur für einige Zeit so: Ein paar Jahre lang bleiben sie zwei Wochen, einen Monat, zwei oder drei Monate in einem Land, bevor sie weiterziehen. Aber oft, und das ist auch der Fall für diejenigen, die länger Nomaden bleiben, haben sie eine oder mehrere Basisstationen in ihrem Land oder woanders, wo sie eine gewisse Routine und ein Sozialleben wiederfinden.
„Das Problem ist, dass die Menschen vor Ort nichts mit uns anfangen können“, erklärt Ash, ein 30-jähriger Inder, der seit fünf Jahren als Nomade lebt und maximal zwei Monate an einem Ort bleibt. „Ich muss nach Afrika reisen, ich kenne dort bisher nur zwei oder drei Länder“, erklärt er seine Rastlosigkeit. „Es ist aber nicht einfach, sich zu integrieren. Die Menschen haben keine Zeit, um sich mit dir auseinanderzusetzen; dich in ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Familie zu lassen. Die Einsamkeit war manchmal ein großes Problem“, fügt er hinzu. Nach fünf Jahren als Nomade macht Ash, ein Softwareingenieur, der „seine Arbeit den Gelegenheiten anpasst“, eine Pause. Er ist es leid, sich immer neu einzurichten. Er hat Rosanna kennengelernt, die halb Portugiesin halb Holländerin ist. Seit zwei Jahren ist auch die 33-Jährige Nomadin.
Mit ihr hat er eine Gruppe namens Digital Nomads Lisbon gegründet, um dieser Einsamkeit entgegenzuwirken. Sie hatte zuerst Probleme Mitmenschen in Facebook-Gruppen oder auf dem Instant-Messaging-Dienst Slack zu finden und hat am Ende Flyer in den Cafés der Stadt verteilt: „Arbeitet ihr online? Dann sollten wir uns treffen!“ Rosanna und Ash haben seitdem eine Gruppe von 1500 Mitgliedern gegründet (von denen 500 die letzten Monate hinzugekommen sind), die sich mindestens einmal pro Woche treffen. Sie sprechen über ihre gemeinsamen Sehnsüchte und Probleme, erkunden zusammen die portugiesische Hauptstadt, gehen etwas trinken und trennen sich dann wieder. Das erste, was ein Nomade macht, wenn er nach Lissabon kommt? „Eine Meet-Up-Gruppe finden, insbesondere unsere, und Leute kennenlernen.“
Da die Fernarbeit immer selbstverständlicher wird und wir morgen genauso gut dauerhaft unterwegs in fahrerlosen Autos leben könnten, ist es von Vorteil, sich auch gleich an ein Nomadenleben zu gewöhnen. Rosanna hat eine nicht ganz so idealisierte Ansicht eines digitalen Nomaden: Ja, natürlich könne er kitesurfen und Capoeira machen, aber er arbeite auch sehr viel. Und er sei nicht irgendjemand: Normalerweise handele es sich um jemanden, der schon berufliche Kompetenzen in seinem Bereich vorzuweisen hat und idealerweise auch schon ein Kundennetzwerk besitzt, das er sonst auch unter seinesgleichen zwischen zwei Porto Tonico-Drinks finden könne. „Ich habe nur ein Sofa, eine Matratze und einen Tisch“, sagt Ash. Der digitale Nomade ist mehr auf der Suche nach dem Sein als nach dem Haben. Und das trifft sich gut, denn „wenn man so einen Lebensstil hat, ist es schwierig einen sozialen Status zu haben“, fügt Rosanna hinzu. Sie bestätigt, dass es bei diesen Veranstaltungen genau so viele geldknappe Freelancer gebe, wie jene, die mit einer finanziell komfortablen Situation just for fun als digitaler Nomade arbeiten.
„Der portugiesische Frühling“
Aber warum Lissabon? Nomaden bewerten die Stadt mit 3,67 von 5 Punkten. Sie hat eine mittelmäßige Internetverbindung von gerade mal 13 MB/s und eine Reihe von Orten, an denen man deshalb nicht gut arbeiten kann. Dazu kommen eine Luftqualität und ein Nachtleben, die nur für „Ok“ gehalten werden. Im Resultat befindet sich Lissabon unter den ersten 300 digital nomads-friendly Städten der Welt, weit hinter den bekannten asiatischen (Bali, Chiang Mai und Bangkok) und europäischen Orten (Berlin, Barcelona und der Anführer Budapest). Die portugiesische Hauptstadt wird von der Gemeinde der digitalen Nomaden vor allem für ihre Lebensqualität geschätzt, (Lissabon befindet sich was dieses Kriterium betrifft laut den Expats weltweit auf Platz 1, Anm. d. Red.). Die anti-hipster Einstellung der jungen Portugiesen, geeignete Surfplätze und auch eine besondere Steuerregelung für Bürger ohne ständigen Wohnsitz tragen dazu bei.
Bis heute hat Lissabon Einwohner verloren. In 50 Jahren haben 200.000 Menschen, also zwei Drittel der Bevölkerung, das historische Zentrum verlassen. Die weltweite Wirtschaftskrise und die Sparmaßnahmen Portugals haben nicht gerade geholfen. Seit einiger Zeit blickt die Stadt auf eine Erfolgsgeschichte, geschrieben von Ökonomen, die ein so niedriges Haushaltsdefizit feststellten, wie seit Jahrzehnten nicht. Und auch die Presse wirft mit Metaphern für den "Portugiesischen Frühling" nur so um sich. Schön! Aber auch wahr?
Rosanna ist 2015 nach Lissabon gekommen, nachdem sie sechs Jahre keinen Fuß in die Stadt gesetzt hatte. Sie war „ganz begeistert“. Das Portugal vor der Krise hat sie nie erlebt. „Als ich zurückkam, spürte ich eine positive Energie, die ich davor noch nie gespürt hatte. Vorher war der Traum der jungen Portugiesen in erster Linie ihr Land zu verlassen. Jetzt sagen sie sich nach dem Studium, auch wenn sie nicht unbedingt einen Job gefunden haben: 'Versuchen wir hier etwas zu machen'.“
Die Stadt zählt auf zwei Dinge. Das erste ist der Tourismus, dessen Einkünfte in den letzten zehn Jahren um 10% pro Jahr zugenommen haben und der jeden achten Lissabonner beschäftigt. Das zweite ist ihre wirtschaftliche Attraktivität, insbesondere im Bereich Digitales. Der größte Erfolg der Stadt? Die Ausrichtung des Web Summit - der größten Konferenz über neue Technologien. Seit 2016 findet die nicht mehr in Dublin statt. Seitdem ist das ehemalige Industrieviertel Beato zum größten Campus der Welt für digitale Unternehmer geworden. Die Start-up-Brutstätten sind auf Werbeplakaten abgebildet und versuchen die Debatte über die Auswirkungen des Massentourismus in Lissabon vergessen zu machen. Ein Thema, welches von den Kandidaten für die Kommunalwahlen nicht ignoriert werden kann. Aber sind die digitalen Nomaden in dieser so schönen und unternehmerischen Stadt nur auf der Durchreise? „Es bringt nichts Pläne zu machen“, sagt Ash. „Wir machen am Ende eh immer genau das Gegenteil“, fügt Rosanna hinzu.
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Translated from Lisbonne : nomades land