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Letzte Mail aus Jerusalem - Myriam

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Default profile picture Nuria Serra

Nomur

Heute Abend riecht es nach Reiseende, nach Ferienende. Das Hotel Hebron, wo wir anfangs noch zu 80 gewohnt haben, leert sich, ich schlafe in einem fast leeren Schlafsaal.

Deprimiert nach all diesen von Leuten umgebenen Tagen voller Entdeckungen, voller – manchmal widersprüchlicher- Emotionen…Ich lief noch einmal die kleinen Straßen Jerusalems entlang, die ich nach zehn Tagen im Westjordanland so liebe. Diese Gässchen, in denen sich der Duft der Gewürze mit dem Geruch der Abfälle mischt, wo man, von Bazarhändlern eingeladen, beim Tee sitzt, wo man die Treppenstufen in praller Mittagshitze erklimmt, weil man doch Tourist bleibt und hartnäckig zur Mittagsstunde herumläuft…

Ende der Reise, nun wird es Zeit, Bilanz zu ziehen, aber ich weiß nicht wo anfangen. Wie Euch die so komplizierte Situation erklären? Eine furchtbare Analyse zeichnet sich derweilen ab. Alle Elemente fügen sich zusammen, um eine Schlussfolgerung aus dem zuzulassen, was wir gesehen haben. Der israelische Staat will systematisch die Einheit und die Identität Palästinas zerstören. Israel sucht zuerst die Menschen auf immer kleiner werdenden und immer unzusammenhängenderen Landparzellen zu isolieren. (Ich werde Euch das auf einer Karte und auf Fotos zeigen, es ist unglaublich, die Mauer teilt manchmal sogar Häuser durchzwei, und die Kolonien werden immer weiter errichtet…von Palästinensern die keine andere Arbeit finden).

Dann der Versuch, psychisch durch ständige Beleidigungen zu schwächen. An den Checkpoints zum Beispiel, wo man manchmal ohne Probleme hindurchkommt, manchmal aber stundenlang wartet, ohne dass es einen bestimmten Grund für diese unterschiedliche Behandlung gäbe, und wo junge israelische Militärs zwischen 18 und 21, dem Alter in dem man seinen Militärdienst leistet, alten Palästinensern Befehle zuschreien. Gestern habe ich den schlimmsten aller Checkpoints gesehen, es war genauso schlimm wie in Mexiko im letzten Jahr…Wir mussten unsere Schuhe ausziehen, und mit einer großen Tasche war praktisch kein Durchkommen durch die Drehtüren möglich, die ohne Vorwarnung blockieren, ob Du drin bist oder nicht. Die Palästinenser mussten sogar ihre Fingerabdrücke nehmen lassen, wir jedoch nicht. Ein Blick auf den Pass öffnet Dir alle Türen, es war mir fast peinlich vor den anderen, die da gewartet haben…Was bin ich mehr wert als sie, ich kleine Ahnungslose in Bezug auf die Besetzung, die sie hier seit 60 Jahren erleben ? Und wozu dieses riesige Schild auf der anderen Seite des Checkpoints auf dem Weg nach Bethlehem, das Dir wünscht „Peace be with you“? Genauso zynisch wie die Schilder „Arbeit macht frei“ am Eingang der Konzentrationslager.

Ein anderes Beispiel für den psychologischen Druck auf die Bevölkerung sind die Runden, die die Armee nachts in den Flüchtlingslagern und Städten dreht. Einige aus der Gruppe hörten jede Nacht Schüsse und Schreie und sind nun froh, heimzufahren…aber die Palästinenser, die schon seit langem nicht mehr genug schlafen, sie bleiben…

Die Realität kristallisiert sich heraus aus dem Lauf der gesammelten Ereignisse, aus den Treffen mit allen möglichen Vereinen und Gesellschaften, aber was das Verrückteste ist, ist das Echo das uns aus den europäischen Medien entgegenschlägt. Man erzählt uns vom israelisch- arabischen Konflikt, aber es handelt sich nicht um einen Krieg zweier Staaten. Nein, es handelt sich um eine Besatzung. Um einen reellen Willen, die Geschichte eines Volkes auszulöschen, und trotz einer gewissen Mediatisierung : davon spricht niemand.

Auch wenn ich weiterhin glaube, dass Waffengewalt nicht die wirkliche Lösung ist, werde ich nicht wieder von palästinensischen Terroristen sprechen. Was diese Menschen tun, ist genau das was man 1940- 45 Résistance nannte. Sie halten der Besatzung stand, nicht mehr und nicht weniger. Glaubt nicht, dass ich indoktriniert wurde und dass ich jegliche kritische Sichtweise verloren hätte, weil ich mit einer pro- palästinensischen Gruppe unterwegs war…Es gibt hier eine greifbare Realität, Beweise, die ich Euch zeigen werde, Fotos die ich gemacht habe, Karten, die die progressive und scheinbar leider unvermeidliche Vereinnahmung der Territorien zeigen.

Als ich heute auf der Gedenkstätte Yad Vashem umhergelaufen bin, konnte ich die Frage nicht beantworten, die mich beschäftigte. Wie kann ein Volk, das selbst Erniedrigung und Segregation erlebt hat, dies heute reproduzieren? Wie kann man heute wieder eine Mauer wie die Berliner Mauer bauen? Wie kann es sein, dass in Hebron die Siedler ihre Abfälle auf Palästinenser schütten, die im Erdgeschoss wohnen, und dass einige aus der Gruppe einen Siedler dabei beobachteten, wie er einer schwangeren Frau ins Gesicht spuckte? Und es geht schlimmer….Wie können sie es wagen, ihre in den Konzentrationslagern gestorbenen Großeltern in moralische Geiselhaft zu nehmen und im Namen des Holocaust eine solche Politik zu rechtfertigen

Heute Abend werde ich mich auf eines der hohen Dächer Jerusalems setzen und die Brise spüren, die abends aufkommt und die Atmosphäre belebt. Die Emotionen und die verschiedenen Puzzleteile werden sich langsam ordnen, und vielleicht werde ich es eines Tages verstehen…Unterdessen werde ich versuchen, Euch zumindest teilweise weiterzugeben, was ich hier gesehen habe und was alle meine Erwartungen übersteigt.

Ich freue mich jedenfalls, Euch bald wiederzusehen. Ich umarme Euch und entschuldige mich im Voraus für diese etwas zerfahrene Mail. Nach der Müdigkeit von 15 Tagen ist es schwierig, einen klaren Kopf zu behalten und das hier alles schnell in einem Internetcafé aufzuschreiben…

Viele Grüße und Küsse,

Myriam

Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Stolte

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