Leise Radio-Revolution
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Über das Musikhören im Internet.
In Bibliotheken ist es verdammt still. Jedes Stuhlknurren, jeder Nieser wurde in der Vergangenheit meist mit den vorwurfsvollen Blicken anderer Besucher quittiert. Doch mittlerweile bekommen viele es nicht mehr mit, wenn jemandem der Bücherberg aus den Armen fällt oder ein Handy klingelt - denn nicht zuletzt in den ehrwürdigen Bücherhallen fand im elektronischen Zeitalter heimlich eine Revolution statt: Laptops mit Kopfhörern bringen Musik direkt in die Flüsterdomäne. Während ich also eigentlich Hobbes lesen muss, hopse ich im Internet umher und suche nach neuen Bands, neuen Rhythmen, neuer Ablenkung. Oder nach alten Rhythmen, alten Lieblingsstücken.
Kaum hat man nämlich den Rechner angeschmissen, tritt dieser bei iTunes beispielsweise in direkten Kontakt mit umliegenden Kisten, die das gleiche Programm nutzen. Das Schöne daran ist, dass man die Playlists der Anderen anklicken und durchhören kann. Dann kann man anfangen zu philosophieren, wer zu welcher Playlist gehört: Klar, der schwarz Gekleidete hört die Gothicliste "Dawn". Das Mädchen mit den hennaroten Dreads ist bestimmt "Anna R." eine Playlist voller Folk und Sommerpop. Doch wer ist "mjusiq" - 5GB Jazz, Funk, Klassik und innovative Liedermacher? Mit dem genialen Soundtrack des Dylan-Films I'm not there? Bob Dylan sei in jedem, vermittelt dieser Film. Und wie viel Dylan steckte dann in Hobbes?
Wem die eigene Playlist, die weitere anlockt, noch nicht ausreicht, der kann sich bei last.fm ein eigenes Profil schaffen und dort stöbern. Nach Begriffen wie "indiepop" zum Beispiel, oder nach Bandnamen. Die in London von drei jungen Musikverrückten gegründete Plattform spielt dann Songs, die zur Anfrage passen. Aber sie stellt auch ähnliche Künstler mit vor. Gefällt etwas, klickt man schnell auf "tag", damit es nicht vergessen geht. Hat sich der virtuelle DJ vergriffen - "ban" drücken und abwürgen. Der Nachteil bei last.fm ist, dass viele Titel noch nicht voll verfügbar sind und, dass man ständig gebeten wird, diese doch im Netz zu kaufen. Die Wege führen also zurück zu iTunes und man merkt: Bei aller Revolution - hier geht es um's Geschäft.
Ähnlich funktioniert auch seeqpod - eine schlichte Seite, auf der aus dem weltweiten Musikangebot im Netz dann die Titel, die zum Suchwort passen aufgelistet werden. Man kann sie vollständig anhören und zum Beispiel ins eigene Blog verlinken. Wer kostenlose und vor allem legale mp3- Downloads sucht, der wird bei Tonspion, respektive tonespy, fündig. Die Seite gibt es schon fast seit 10 Jahren. Das Angebot reicht von Rock und Pop über Klassik bis zu Jazz, verlinkt Musiker und Labels mit ihren Gratisangeboten und wertet sie redaktionell aus. Sie ist zwar EU-weit abrufbar, jedoch nur auf deutsch und englisch.
In immerhin 16 Sprachen wird Deezer angeboten. Diese gerade in Frankreich beliebte Seite bietet ebenfalls eine Suchoption für Musik und spielt sie dann in voller Länge online ab. Ähnlich wie bei seeqpod und last.fm kann man sich seine eigenen Playlists bauen und speichern. Allerdings findet Deezer meist weniger Songs und die Seite ist etwas kompliziert strukturiert und voller nerviger Werbung - bei seeqpod und last.fm ist man nicht ständig der 999.999ste Besucher.
Spannend und werbefrei ist auch die noch wenig bekannte Seite www.tun3r.com - ein virtueller Weltempfänger. Bei diesem kanadischen Projekt kann man tatsächlich in Radiostationen aus aller Welt hinein hören! Die schlichte Seite, die ein bisschen wie Omas Küchenradio aussieht, fasst alle Sender, die einen Onlinestream haben, zusammen. Es sind tausende und gerade in diesem Moment läuft ein bekloppter deutscher Schlager: "Papa Pinguin". Zerrt man die Nadel dann etwas weiter, wie man eben früher bei Oma die Sender einstellte - knackt und grunzt es auch wie im echten Radio. Plötzlich dringt kapverdische Weltmusik in die Ohren. Hobbes hört mit, denn das Buch ist auf die Tastatur gesunken. Auch bei "tun3r" kann man Genres und Künstler eingeben und so mitverfolgen, wo zum Beispiel zuletzt auf der Welt Van Morrisons "Gloria" gespielt wurde: in Rumänien, auf "Radio Alternativ". Jetzt rocken in diesem Bukarester Sender die Whitestripes und Hobbes grinst vom Buchrücken. Er ist eben doch Brite.
Es ist schwer, das Entdecken von Musik im Internet zu lenken, den Hunger nach Neuem zu stoppen und sich nicht darin zu verlieren. Nun strömen die viereinhalb Oktaven der peruanischen Opernsängerin Yma Sumac aus den Kopfhörern. Der Zufallsgenerator hat sie in "mjusiqs" Liste entdeckt. Sumac hat einst ein Album mit alten Mambos aufgenommen. Es klingt, als kitzele Fidel Castro Mozarts Königin der Nacht an bestimmten Stellen. Bei diesem Gedanken muss ich mitten in die Bibliothekstille hinein lachen. Doch niemand scheint gestört: Wirklich alle in diesem Lesesaal haben Knöpfe in den Köpfen und hören Musik.