Las Tres Mil: Sevillas schöner Schandfleck
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Drogenhandel, Analphabetentum und rotznasige Kinder, Bus- und Taxifahrer wagten sich lange nicht in den Dschungel der Trabantenstadt: das ist auch heute noch das Image des "Barrio Tres Mil", dem "3000er Viertel", an der Südgrenze der andalusischen Hauptstadt Sevilla. Ist der Ruf gerechtfertigt?
Müllberge auf den Gehwegen, Plastikstühle vor den Türen. Ein paar Bäume, zu Wäscheständern umfunktioniert, an denen bunte Wäsche flattert. Voluminöse Frauen in Morgenröcken tratschen vor den Eingängen der letzten selbstgezimmerten Abstellkammern aus Bauzaun. Sie trotzen dem Bulldozer, der bereits hinter der nächsten Ecke wartet. Denn Teil eines neuen Sanierungsprojekts im sevillanischen Vorort Polígono Sur ist der Abriss der illegalen Höfe. Geht doch nicht, einfach auf den Gehweg bauen!
Seit 2003 hat die Trabantenstadt ein neues Erfolgsrezept für die Anpassung an ein gepflegtes Metropolenleben: der 'Integrale Plan'. Revolutionär dabei, betont Antonio Rodrigo Torrijos, stellvertretender Bürgermeister Sevillas und Abgeordneter des Polígono Sur, sei die Beteiligung der Bürgerinitiativen an den umfassenden Maßnahmen, die sich auf das Arbeitsleben, Städtebau, Gesundheits- und Erziehungswesen erstrecken.
Noch ist der Improvisationsgeist des Viertels spürbar. Doch Torrijos erklärt stolz, es sei nicht mehr das, was es vor 5 Jahren war. Weder Esel und noch Ziegen schauen mehr aus den Wohnzimmerfenstern, Bilder die in Spanien durch den Dokumentarfilm Polígono Sur von Dominique Abel für Furore sorgten.
3000 Wellblechhütten
Das offiziell 'Polígono Sur' genannte 'Gewerbegebiet Süd', eingekesselt von Schnellstraßen, Eisenbahnschienen und kranverstellten Baugrundstücken, bildet den Blinddarm des glänzenden Sevilla. Anfang der 70er Jahre wuchsen hier die ersten 3000 Sozialwohnungen, um die Bewohner aus den Wohnwagen- und Wellblechhütten der Innenstadt und ländlichen Umgebungen in vertikale Baracken umzusiedeln.
Der Name der '3000' ist geblieben, auch wenn es mittlerweile rund 7.000 Sozialwohnungen für die geschätzten 50.000 Einwohner sind. Insgesamt 10-15% der Bewohner gehören zur Ethnie der Roma, in manchen Wohnblock-Abschnitten liegt ihr Anteil bei 58%. Unterschiedlichste Volksgruppen, Wohnerfahrungen und Lebensvorstellungen treffen hier aufeinander: das soziale Konfliktpotential ist groß. Sevillas Sorge um seinen Ruf auch. Zeit fürs Aufräumen.
Abhilfe gegen Verwahrlosung
Der Grundsatz des Sanierungsplans ist simpel: die Wurzel aller Kriminalität ist die soziale Ausgrenzung, die Wurzel der sozialen Ausgrenzung die Armut, die Wurzel der Armut Arbeitslosigkeit. So sind beispielsweise drei Ausbildungsschulen eingerichtet worden.
Juan und Antonio, beide um die 30 mit deutlichen Roma-Zügen, haben sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Nun schrauben die beiden Schüler des '' eifrig Glühbirnen und Kabel zu einem Stromkreis zusammen. Auch Sara, 35, will hier Elektrikerin werden und kämpft dabei gleichzeitig für einen stabilen Arbeitsplatz und Emanzipation.
Um die Öde der Wohnviertel zu bekämpfen, werden natürlich auch bauliche Maßnahmen nötig: farbliche Akzente, Höfe, Spielplätze. In Gesprächen mit Anwohnern erfährt Marina Lagos, Architektin des Sanierungsprojekts SURCO, was ihnen wichtig ist: Sicherheit. Das heißt konkret: alles vergittern! Für Sicherheit sorgen neuerdings auch effizient die blauen Polizistenduos an jeder Häuserecke. Auf der breiten Straße halten sie ein Auto nach dem anderen an. Schmalhüftige sonnengebräunte Jungs lehnen mit erhobenen Armen gegen den Kofferraum und lassen sich geduldig abtasten.
Rauschgift und Ungeziefer
Auch der Drogenhandel floriert im Barrio Tres Mil. "Denn" so erinnert Torrijos, "der Markt existiert, weil es Käufer gibt." Und er weiß: "Dazu gehören die edelsten Namen aus der High Society." An die Nieren geht es auch , als er neulich von einem ehemaligen Schüler hören musste: „Ich bin gerade aus dem Gefängnis gekommen. Fünf Jahre Haft abgesessen“ und ganz nebenbei: "Übrigens, mein Cousin ist tot, hat eine Überdosis nicht überlebt."
Frauen und kleine Kinder prägen das Straßenbild. Ein paar von ihnen haben die Räude. Neue Ästhetikkurse für Frauen würden die Grundregeln der Körperpflege vermitteln, für die Kleinen gibt es Unterweisungen, während der Frühstücksstunde vor dem Unterricht. So versucht man gleichzeitig, der Vernachlässigung der Schulpflicht Herr zu werden und eine gemeinsame Mahlzeit einzunehmen. Meistens reiche das Geld zwar zum Essen, doch fehle die Einsicht, dass regelmäßige Ernährung wichtig sei.
Nicht das gesamte Polígono Sur sei verwildert, das Gros "anständig" und wolle eine Integration, betont Torrijos. Er wolle alle Benachteiligten des Kapitalismus an dessen Vorteilen beteiligen, obwohl er als überzeugter Kommunist die "Verlogenheit" des aktuellen Gesellschaftssystems erkenne. Und obwohl seine Sekretärin einen silbergrauen Mercedes-Dienstwagen fährt.
Der Plan Integral = lachhaft
Der Plan Integral? José Carlos, dessen Schüler aus dem sozial schwächsten Teil der Gegend, 'Las Vegas', kommen, lacht zynisch. "Das Thema ist in Mode gekommen. Aber wir lehren genau so weiter wie seit 20 Jahren: nicht prügeln und die Notdurft auf den Toiletten verrichten." Wenn auch zu Hause womöglich weder WC noch Badewanne vorhanden sind. Vielleicht hat sie Vater oder Onkel gewinnbringend verkauft. Neben Zinkrohren, Aufzug, Treppengeländern. Wer erinnert sich da nicht an Liedfetzen von Zigeunern und fahrendem Volk, die er schnell wieder verdrängt, man ist ja kein Rassist. Aber Rassisten seien die Zigeuner selbst: "Uns Nicht-Zigeuner nennen sie 'Payo'- Dummkopf", lacht Maria Carmen López Camacho, 24, die sich tapfer als Erzieherin in der Macho-Welt von Las Vegas durchsetzt. Für nichts in der Welt wolle sie woanders arbeiten.
Die Zuneigung des 14-köpfigen Lehrerteams von Altolaguirre - keiner von ihnen gehört zur Ethnie der Roma - ist trotz allem unübersehbar. Ein Klaps hier für den dicken Francisco, ein Bravo für den dreijährigen Moi, nachdem er seine braunen Ärmchen ein paar Takte lang Flamenco tanzen lässt, ein ganzer Arm voll Kinder will Fotos und Besitos - Küsschen. Im Flur wird Rektor José Carlos laut: "Mama, was willst du?" Eine Mutter bringt ihrer Tochter den Schlüssel hinterher, in Schlafanzug und Pantoffeln. José Carlos gibt ihr einen 'Palo', ein Instrument aus Bambusrohr, denn er weiß: "Sie ist eine Künstlerin." Und dann spendiert sie ein paar feurige Rhythmen mit riesigem Goldzahnlachen. , es lebe die Kunst der '3000'!