Künstlerisches Gemetzel: Fleischbeschau auf der Carne 2010
Published on
Eine Kunstausstellung, deren Titel schlicht „Fleisch“ lautet und die tote und lebende, menschliche und tierische Körperfetzen präsentiert, mag in Zeiten von Körperwelten, Splatterfilmen und Lady Gaga nicht unbedingt neu sein.
Um ihrer Kunstfleischschau aber eine besondere Note zu verleihen, haben die Pariser Veranstalter die Ausstellung Carne 2010 kurzerhand aus dem Museum in den Schlachthof verlegt. Ein Rundgang durch den Pariser Norden, zwischen Hacksteak und Videoinstallationen.
Die jüdische Metzgerei Emsalem kommt auf den ersten Blick sehr aufgeräumt daher. In dem großen blau-weiß gefliesten und seltsam leeren Raum sind eine Handvoll Angestellte damit beschäftigt, Wurst zu schneiden und Koteletts zu wiegen. Heute ist Zunge im Sonderangebot, 200 Gramm sind schon für ein paar Euro zu haben. Angesichts der vielen Preistafeln übersieht man beinahe das eigentliche Ausstellungsobjekt: Links an der Wand klebt eine lebensgroße Kohlezeichnung einer Kuh - ein Werk mit Namen Magnet (2010) des Künstlers Renaud Chambon. Von der echten Kuh, die ihm Modell stand, bleibt nur eine Identifikationsnummer, für Chambon zynischer Ausdruck einer Gesellschaft, die das noch lebende Tier als bloßen Fleischlieferanten kontrolliere und klassifiziere.
Kontemplative Kunstbetrachtung an der Wursttheke
Nicht unbedingt ein leichtfüßiger Auftakt einer Ausstellung zum Thema Fleisch, aber in Zeiten industrieller Nahrungsmittelproduktion lässt sich wohl auch kaum anders über Steak und Innereien nachdenken. Umso mehr erstaunt es, dass ein Großteil der Künstler, die in der Ausstellung Carne 2010 vertreten sind, sich kaum mit den ethischen Implikationen des Fleischkonsums auseinandersetzen und eher vage Assoziationen zwischen ihrer eigenen „zersetzenden“ Arbeit und dem Werk des Schlachters herstellen. Doch sind unter den 43 Künstlern, die in 17 verschiedenen Restaurants und Metzgereien entlang der Avenue Corentin Cariou ausstellen, außer Chambon glücklicherweise noch ein paar mehr, die die Wurst auf ihrem Teller genauer in Augenschein nehmen. Laut den Kuratorinnen Anne-Marie Bologna-Jeannou und Sarah Fossat solle die Ausstellung aber nicht nur Anlass für ein allgemeines Nachdenken über Fleisch, sondern ebenfalls eine Erinnerung daran sein, dass der Norden von Paris bis in die 1970er Jahre die Schlachthöfe Abattoirs de la Villette beherbergte.
Virtuelles Fleisch von Schwein und Frau
Link zum Weiterlesen: Tiere essen - Europa vegetarisch
Im Haushaltswarengeschäft La Bovida geht es zwischen Töpfen und Wischlappen etwas unblutiger zu. Während Joachim Lapotre auf seinem Fototriptychon Offrandes (2007) ein Schwein mit Schmuck und Silberschal zum Konsumgott erhebt, verarbeitet Jules Bouteleux für seine Cochonailles (2009) Schweinenasen zu glitzerndem Fleischschmuck um. Hugo Arcier, dessen Computergrafiken In the Crack (2009) in der afrikanischen Boucherie Claude zwischen Schinken und Würstchen baumeln, treibt die Künstlichkeit schließlich auf die Spitze, wenn er am Computer virtuelle Eingeweidebilder erschafft. Diese seien, so der Künstler, nicht irrealer als das Fleisch im Hamburger, das auch selten mit dem realen Tier in Verbindung gebracht werde und das es zu „entvirtualisieren“ gelte.
Gleiches versucht Lisa Salamandra, die allerdings zusätzlich die Beziehung von Fleisch und Frau in den Fokus nimmt. Ihre aus Brotpapier und Wurstwerbeanzeigen gebastelten Pin-up Girls mit dem Titel Daily Bread Raw Meat (2009), sind einer der wenigen feministischen Akzente, die die Ausstellung setzt, obwohl doch der gedankliche Sprung vom feilgebotenen Schnitzel zur pornografischen Fleischbeschau nicht schwer fällt.
Während der künstlerisch bewanderte Spaziergänger beim Anblick der rosaroten Installationen seinen Gedanken nachgeht, können die Metzgermeister allerdings nicht besonders viel mit den ungewöhnlichen Interpretationen ihres Arbeitsmaterials anfangen. In der Schlachterei Les Abattoirs de la Villette versichert der Verkäufer zwar, er habe sich die Kunstwerke angesehen und fände auch die Idee der Ausstellung gut, bei genauerem Nachfragen murmelt er aber: „Die Künstler sind nicht hier gewesen und haben auch nichts erklärt. Ich verstehe das alles nicht so recht.“ Eine Bardame legt nach: „Eine Hommage an die Schlachtkultur der Abattoirs de la Villette hätte ich mir aber anders vorgestellt.“
Vom essbaren Tier zu den fleischlichen Abgründen des Betrachters
Die Auseinandersetzung mit Fleisch am Ort seiner Verarbeitung und seines Verzehrs ist also keineswegs selbstverständlich. Wie könne man überhaupt, so fragt Bruno Dubreuil mit seiner an ein Planetensystem erinnernden Collage Cosmogonie de la viande, über Fleisch nachdenken, wenn man doch selbst aus ihm bestehe? Stéphane Belzère greift, um dieses Dilemma zu lösen, auf altbekannte Techniken zurück: Seine schmalen, drei Meter hohen Gemälde von bunten, in Formalin eingelegten Fleischresten mit dem Titel Bocaux anatomiques (2008) lassen nicht mehr erkennen, ob es sich hier um tierische oder menschliche Überreste handelt.
Wessen Fleisch ist es also, dass Carne 2010 zur Schau stellen will? Während das rosa Logo der Ausstellung den Eindruck erwecken mag, es ginge hier nur um das essbare Tier, führt der zweite Teil der Ausstellung im Kunstzentrum 104 den Betrachter in die eigenen fleischlichen Abgründe ein. Ob die Assoziationen zwischen Tier und Mensch, Fleisch und Frau, virtuellem Steak und blutiger Realität allerdings alle Besucher zu Vegetariern werden lassen, ist fraglich. Das kann auch kaum das Ziel der Ausstellung sein, die doch eher Kunden in die teilnehmenden Restaurants und Metzgereien locken will. Dementsprechend verlassen einige Kunstfreunde die Ausstellung nicht mit den obligatorischen Postkarten und Ausstellungskatalogen bewaffnet, sondern ein kleines Papiertütchen der Metzgerei Emsalem schwingend. Dessen Inhalt? 200 Gramm Zunge...
Der zweite Teil der Ausstellung Carne 2010 läuft noch bis zum 15.11. in dem Pariser Kunst- und Kulturzentrum 104/CENTQUATRE (104 rue d'Aubervilliers - 5 rue Curial, 75019 Paris).
Fotos: ©expo-carne.fr