Kulturbetrieb Kroatien: Straßen von heute und Krieg von gestern
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An eine kroatische Literatur- und Theaterszene, die die balkanische Kriegsvergangenheit ausblendet, ist noch längst nicht zu denken. Zu frisch sind die Wunden, zu schnell die Umbrüche, über die hinaus man das Erwachsenwerden vergessen hat.
Die junge Autorengeneration aus Zagreb und Split holt sprichwörtlich 'die Straße auf die Bühne' und pendelt zwischen alltäglicher Identitätsfindung und Aufbruchstimmung.
An einem sonnigen Morgen im Hinterhof eines Hostels, in einem Zagreber Vorort, inmitten von kleinen grauen Einfamilienhäusern und Wäscheleinen, kippen sich drei junge Kroaten bereits früh morgens den ersten hochprozentigen Raki hinter die Binde. Mit rot unterlaufenen Augen kommentieren sie Politik und Medien. Einer von ihnen hatte an diesem Morgen keinen Bock zur Arbeit zu gehen. Sie leben in den Tag hinein. Wir sollten nur keinen schlechten Eindruck von Kroatien bekommen, sagen sie am Ende.
Die kroatischen Autoren Robert Perišić und Vlado Bulić schauen sich an und grinsen. „Die könnten einer unserer Geschichten entsprungen sein.“ So beginnt unsere fast 3-stündige Odyssee über die hiesige Literaturszene im Garten des archäologischen Museums von Zagreb. Die Prosa dieser jungen Generation von Nachkriegsautoren ist roh, fast immer sind Gewalt, Drogen und Sex ein Thema der kroatischen Alltäglichkeit, in der die Charaktere gefangen sind. Sie existieren, vegetieren in Bukowski-Manier in einer Welt dahin, die ihnen davonzulaufen scheint. Zu rasant waren die Umbrüche, zu frisch die Erinnerungen an einen Krieg, der nachwievor den unumgänglichen Subtext der Gegenwartsliteratur webt. „Du bist zu diesem Leben verdammt. Nonstop Wahnsinn. Du bist zum Abwarten verdammt. Überall wohnt der Wahnsinn - und ich“, sagt der Protagonist in Roberts Short Story Kein Gott in Susegrad, die einer deutschen Sammlung von Kurzgeschichten des kroatischen Autorennachwuchses 2008 ihren Namen vermachte.
Straßenliteratur: Kleiner Mann - was nun?
Wenn man versucht die Gegenwartsliteratur in Kroatien zu beschreiben, ist es vielleicht am einfachsten zu sagen, dass sie sich auf die Straße verlagert hat: Auf den ersten Blick scheinen die Straßen in Zagreb wie die jeder x-beliebigen Hauptstadt in Europa. Doch der Schein trügt. Eben dort vernimmt man die teilweise banalen Dialoge, den Slang des Durchschnittskroaten, der versucht sein Leben auf die Reihe zu kriegen. Der Poet, Blogger und Autor Vlado Bulić, dessen Cyber-Punk-Fiktion Journey Into the Heart of Croatian Dream (2006) in Kroatien viel Aufsehen erregte, hatte seinen Schlüsselmoment nach der Lektüre von Perišićs Short Story-Sammlung You Can Spit On The One Who’ll Ask For Us (1999). „Für mich war Roberts Buch das erste, das tatsächlich einzufangen vermochte, was auf unseren Straßen abgeht.“
Der als Neo-Realismus bezeichnete literarische Stil, der in den Neunzigern entstand, zeichnet sich vor allem durch eins aus: mehrere Realitätsebenen, die eine klare Identifizierung von Realität und Fiktion nicht mehr zulassen. Vlado beispielsweise schuf die fiktionale Person Denis Lalić, der sowohl populärer Blogger auf dem Webportal www.index.hr, Protagonist seines Romans und schlussendlich 'Autor' einer eigenen Blog- Kollektion Pušiona' ('Blowhole', 2006) ist. Vlados Prosa selbst durchziehen reeller Alltag, Cyperspace und Rauschzustände – sicher auch, weil seine Charaktere die meiste Zeit bekifft sind.
„Es ist wichtig für unsere Literatur zu zeigen, wie einfach es ist, die Realität zu verfälschen“, erklärt der junge Verleger Ivan Sršen, der 2007 die Literaturagentur Sandorf gründete, die Werke aus Ex-Jugoslawien weltweit vertritt. „Unsere Generation, die den Krieg als Kinder erlebt hat, muss Erklärungen finden. Wir befanden uns plötzlich von einer kollektiven Realität in all diese individuellen Realitäten versetzt und suchen nun nach einem Interpretationsschlüssel, während die Dinge in rasender Geschwindigkeit an uns vorbeifliegen.“
Auch Olja Savičevićs Romandebüt Lebt wohl Cowboys! spiele mit der alternativen Realität eines Spaghetti-Western, verweist Robert auf seine Kollegin aus Split. Die Autorin, Jahrgang 1974, erzählt in ihrem Roman vom schwierigen Erwachsenwerden in einer Vorstadt in Dalmatien, von der Identitätssuche der Studentin Dada nach dem Selbstmord ihres Bruders. „Für manche Autoren handelt es sich um Neo-Realismus oder magischen Realismus, ich bezeichne meine Arbeit gern als realistische Magie – ich schreibe über stinknormale Dinge in einer Art, die sie unrealistisch und fantastisch erscheinen lassen. Warum? Realität hat Fiktion immer in Grausamkeit und Unmöglichkeit übertroffen!“
Gewalt: Theater geht auf die Straße
Gewalt und Grausamkeit sind Themen, mit denen sich auch das junge Theaterduo Anica Tomić/Jelena Kovačić in ihrem aktuellen Stück This could be my street am Zagreb Youth Theatre (ZKM) beschäftigen. Auch hier wird das Augenmerk auf die Straße gelegt. Raus zu den Menschen! Die schrille Performance der seit der Uni befreundeten Theatermädels fiktionalisiert den Fall des Jugendlichen Luka Ritz, der an einer Bushaltestelle in Zagreb 2008 zu Tode geprügelt wurde. Im Gegensatz zur Literatur, die aufzeigen will, wollen Anica und Jelena wachrütteln, und das nicht nur mit ohrenbetäubender Musik: „Es gibt diesen Trend hier in Kroatien, dass entweder alle schuldig oder unschuldig sind“, erklärt Jelena, während sich die hochschwangere Anica eine Slim-Zigarette in der Vorhalle des Theaters gönnt. „Wir wollen sagen, ihr alle tragt die Verantwortung.“
Ähnlich wie in der Literatur vermischen sich auch auf der Bühne mehrere Realitäten. Lukas Freundin Lara Lalic spielt in dem Stück mit, dessen Darsteller ansonsten namenlos sind und nur soziale Funktionen bekleiden. Auch die Eltern von Luka sitzen heute im Publikum. Mitten im Stück gibt es eine Szene von zerstörerischer Gewalt, in der alle Darsteller – vom grünen Irokesen-Rocker-Freund über den Journalisten und Lehrer – alle Requisiten bei krachender Musik zertrümmern. Am Anfang seien die wie gelähmt im Publikum verharrenden Zuschauer so geschockt gewesen, dass nun nach jeder Vorstellung mit einem Theaterpsychologen gesprochen werden kann. „Es ist auch die Geschichte unseres Landes und der Menschen, die immer nur tatenlos rumsitzen. Wir wollen, dass die Leute reagieren, dass sie sagen uns reicht’s mit dieser Regierung und diesem ganzen Bullshit“, sagt Anica energisch.
Dass es Zeit zum Aufbegehren ist, rückt auch Olja Savičević mit ihrem Romanende in den Mittelpunkt. Die Konsequenzen der noch jungen Kriegsvergangenheit des Landes sind immer noch omnipräsent. Robert Perišić bedauert jedoch, dass es im 'Westen' auch eine gewisse Erwartungshaltung an Schriftsteller vom Balkan gibt, den Krieg zu thematisieren.
Trotzdem habe im kroatischen Kulturbetrieb eindeutig ein Shift hin zu sozialen Themen stattgefunden, so Olja. „Das heutige Kroatien ist ein Land im Übergang zu wildem Kapitalismus; es ist korrupt, wurde geplündert und von einer Handvoll mächtiger Männer regiert – viele unter ihnen Kriegsschmarotzer – die reich wurden, indem sie die eigenen Leute bestahlen. Die Bürger sind heute weitestgehend arm, gedemütigt und ihrer Rechte beraubt. Deshalb gehen sie auf die Straße. Als ich mein Buch vor einem Jahr beendete, war mir klar, dass es in einem massiven Straßenprotest münden müsste. Die großen Themen in den kleinen persönlichen Geschichten. Das ist das Äußerste, was Literatur im Moment tun kann und das Mindeste, was sie tun muss.“
Dieser Artikel ist Teil unseres Balkan-Reportageprojekts 2010-2011 Orient Express Reporter! Danke an Antonija Letinic und Ante Jeric!
Fotos: Boring Routine (cc)Lauba House/flickr; Robert ©Sandorf; Bücher und Straßen (cc)roksoslav/flickr; Vlado ©Sandorf; Olja ©Andrija Zelmanović; Anica Tomić/Jelena Kovačić "This could be my street" ©ZKM