Kreta, krisenfestes Eldorado
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kflueggeDie brennende Sonne der kretischen Stadt Chania lässt einen fast vergessen, dass Griechenland gerade die schlimmste Krise seiner Geschichte durchlebt. Der Anblick der Schaufenster in der Innenstadt ist ein Augenschmaus, die Altstadt verführt mit der Schönheit ihrer venezianischen Fassaden und in den Nachtklubs präsentiert sich die gebräunte einheimische Jugend stolz in Markenklamotten.
Ist das das Bild eines Landes, das zu lange über seinen Verhältnissen gelebt hat? Oder gibt es so etwas wie ein ewiges griechisches Eldorado?
Der alte Hafen von Chania ist ein Touristenmagnet schlechthin. Besucher kommen während ihres Aufenthalts immer wieder hier hin, um griechische Spezialitäten zu kosten oder die festliche Stimmung zu genießen. Diesen Sommer sind die Restaurants jedoch nur zu zwei Dritteln besetzt. Die Kellner sind schon dazu übergegangen, auf der Straße nach potentiellen Gästen zu suchen. „Hier auf Kreta liegt die Krise noch vor uns“, erklärt der junge Wirt Marinos. „Wenn erst einmal die Hochsaison vorbei ist, müssen wir bis zum nächsten Sommer von den jetzigen Einnahmen zehren“, bedauert er.
Kreta-Urlauber: Keine Lust auf Steinewerfer
Wer ist daran schuld? Für den 27-jährigen Architekten Giorgos gibt es einen Sündenbock: Die Medien. „Die Darstellung der Medien von den jüngsten Demonstrationen gegen die Sparmaßnahmen war total übertrieben. Erst in Griechenland, später auch international.“ Dass die Bilder von Steine werfenden Demonstranten und brennenden Autos in der Endlosschleife über die Nachrichtenkanäle liefen, hat mit Sicherheit einigen Touristen die Lust verdorben, ihren Urlaub in Griechenland zu verbringen.
In Chania jedoch zeugt bis auf ein paar Protest-Graffitis nichts von der Unzufriedenheit der Menschen. „Die Leute kommen hierher, um eine gute Zeit zu verbringen. Wir behalten unsere Sorgen für uns, um sie nicht abzuschrecken“, erläutert die Hotelmanagerin Mariana. Sogar die Preise wurden gesenkt, um neue Kunden anzulocken.
Sorgenlos wie Dionysos
Weit entfernt von den Sorgen der kleinen Händler feiern die einheimischen Golden Boys auf den Stränden von Chania weiter und sonnen ihre Adoniskörper. Auf dem Programm stehen neben dem Sonnenbad noch Beach-Tennis und Cocktails. Ein Versuch, die kommende Krise zu verdrängen? Nicht wirklich, antwortet Giorgos, weil „es hier kein Problem gibt. Die Griechen sind reich. Es ist nur der Staat, der arm ist“, erklärt er mit einem scheinheiligen Blick, der daran denken lässt, dass die Hälfte des griechischen BIP der Schattenwirtschaft zu verdanken ist.
Wie viele Griechen beginnen diese jungen Privilegierten erst im Alter von 30-35 Jahren damit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Oft steigen sie in das Unternehmen ihrer Eltern ein. „Wenige haben den Ehrgeiz, sich eine Stelle woanders als im eigenen Familienunternehmen zu suchen“, erklärt die 26-jährige Englisch-Lehrerin Christiana. „Wenn man ein Viertel seines Lebens am Strand verbringt, fällt es schwer, seine Gewohnheiten aufzugeben. Es ist nun mal auch reizvoll, seine Karriere auf einem Führungsposten zu beginnen.“ Auf die meisten jungen Menschen aus Chania trifft das allerdings nicht zu. Sie wollen auf eigenen Füßen stehen und hoch hinaus – mit dem Risiko, abzustürzen wie ihr Landsmann Ikarus. Nur, dass sie keine Angst haben müssen, ins Meer zu fallen, sondern im Strudel der Familienunternehmen zu ertrinken.
Eine Familie, die einem unter die Arme greift - oder erdrückt?
75 % der griechischen Unternehmen sind Familienbetriebe. Für die jungen Griechen ist die Entscheidung daher meistens schnell gefällt: Entweder arbeiten sie in der Firma der eigenen Familie oder in der einer anderen. Nur, dass im letzteren Fall die Chancen zu einem Posten mit Verantwortung aufzusteigen, gering sind – wenn nicht sogar gleich null. Bei der Bezahlung ist das griechische System für sie nahezu unverschämt. In einem Familienunternehmen existiert das Leistungsprinzip nämlich nicht. Diejenigen, die in die Firma der Eltern einsteigen, haben es auch nicht besser: Arbeit ohne richtigen Vertrag, kein Mindestgehalt, nichtvergütete Überstunden. Unter diesen Umständen selbstständig zu werden, ist nahezu unmöglich. „Diese Arbeitskultur vernichtet jegliche Ambition und Unternehmergeist“, kritisiert Christiana. Sie vernichtet auch das Potenzial der jungen Griechen, die ihre Stärken nicht im eigenen Land geltend machen können, obwohl sie zu den am besten ausgebildeten Menschen in Europa gehören. Wird das griechische Gesellschaftsmodell zum Feind Nr.1 im Kampf gegen die Krise? Sicher ist, dass es auf den Prüfstand gestellt werden wird, falls die Krise sich verschlimmert und die Familien dazu gezwungen werden, das eigene Vermögen zu investieren, anstatt die Schulden an die nächsten Generationen abzuschieben.
Währenddessen, auf Kreta ...
Weit weg von den Schandtaten der europäischen Presse sitzen die Kreter am Meer und nippen friedlich an ihrem Café Frappé. „Wir werden ja nicht gleich aufhören zu leben“, protestiert der 28-jährige Informatik-Dozent Andreas. „Eine Krise ist nicht gleich eine Katastrophe“, fügt er hinzu. Er weiß, wovon er spricht. Im Griechischen bedeutet das Wort „Krise“ ein heftiges Infragestellen der existierenden Ordnung mit Ausblick auf eine neue und bessere. Auf jeden Fall ist die Lebensfreude auf Kreta kein griechischer Mythos. Die Weisheit der Griechen ebenso wenig.
Fotos: Artikellogo ©Jose Téllez/flickr; leeres Café ©Matthieu Stankowski; Chania by night ©kristynaki/flickr; Aussicht von Chania ©C.K.H/flickr
Translated from La crise vue de Crète : le travail, une affaire de famille