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Konservenkinder sind ok

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Gesellschaft

Alle Jahre wieder sorgt die öffentliche Entrüstung über künstliche Reproduktionsformen von Seiten eines Prominenten für Aufsehen. Dabei vermitteln die heiß diskutierten Kommentare vor allem eines: eine tiefe gesellschaftliche Verunsicherung gegenüber neuer Gesellschaftsformen.

Im letzten Jahr war es die Büchner-Preisträgerin Sybille Lewitscharoff, die mit ihrer Dresdner Rede für einen Skandal in der deutschen Presse sorgte. Sie bezeichnete durch künstliche Befruchtung gezeugte Kinder als „Halbwesen“ und nannte diese medizinische Praxis „absolut widerwärtig“. 

Im März 2015 dann waren es die Designer Dolce & Gabbana, die Wirbel in das dem Laien noch unbekannte und vor allem wenig definierte System neuer Reproduktions- und Verwandtschaftsformen brachten. Das Designer-Duo regte sich über Umstände auf, die wir vielleicht schon benennen, aber für die wir noch keine gesellschaftlichen Umgangsformen gefunden haben. Leihmütter, Samen- und Eizellenspende sowie künstliche Befruchtung wurden auch hier als „Abarten“ bezeichnet und nach natürlicher, auf Liebe basierender nicht chemischer Reproduktion gefordert. Alle anderen Kinder, so die Modepäpste, seien „synthetisch“. Elton John, der mit seinem Partner David Furnish zwei Kinder groß zieht, die durch Eizellenspenden entstanden und durch Leihmütter ausgetragen wurden, bezeichnete das Denken der italienischen Designer als „archaisch“ und rief zum internationalen Boykott des Labels auf. Abgesehen davon, dass nicht alle Kinder aus Liebe gezeugt werden, sondern eine nicht unbeträchtliche Anzahl auch aus Vergewaltigungen, Ehegewohnheiten oder Abenteuerlust in Kleiderschränken (Boris Beckers Tochter sei Zeugin) entstehen, drücken diese erneuten Entrüstungen gegenüber moderner Reproduktionstechniken vor allem eines aus: eine große gesellschaftliche Verunsicherung. Die einzige Familie, so proklamierte Domenico Dolce, sei für ihn die traditionelle.  

Was ist das überhaupt, die traditionelle Familie?

Es lässt sich beobachten, dass die Entrüstungen sowohl im Falle der deutschen Büchner-Preisträgerin als auch der beiden Modezare aus einer eher konservativen, wohl auch sehr katholischen Ecke stammen. Der Ethnologe Jack Goody hat das sehr anschaulich in seinem Buch Geschichte der Familie dargestellt: Was wir heute so allgemein als „ Familie“ bezeichnen, nämlich Mama, Papa, die sich lieb haben und deswegen aus purem Altruismus Kinder zeugen - also die Liebesehe - ist eine relativ neue und vor allem vom Christentum geforderte, gesellschaftliche Institution. Die katholische Kirche hat ihren Reichtum vor allem darauf gegründet, dass sie die Liebesehe („bis dass der Tod euch scheide“) proklamierte und überflüssige Besitzanteile dann wieder in Kirchenbesitz übergingen. Die heilige Familie ist also gewinnbringend vermarktet worden.

Alles also Augenwischerei? Die Katholische Kirche lehnt bis heute jede Form der künstlichen Befruchtung ab, dies ist im „Donum Vitae“ des Vatikans von 1987 festgelegt worden. Genauso wenig dürfen „künstliche“ Gegenstände wie Präservative zwischen den männlichen und weiblichen Liebesakt geschoben werden.

Patchworkfamilien brauchen Patchworkregeln

Die sogenannte traditionelle Kleinfamilie ist ein in unserer Zeit sowieso schwindendes Modell, nicht nur aufgrund moderner Reproduktionstechniken, sondern vor allem wegen der hohen Scheidungsrate. Es sind also nicht nur die Regenbogenfamilien, wie die von Elton John, die unsere Gesellschaft in einen Umbruch bringen, sondern vor allem die Tatsache, dass fast jedes zweite Kind nicht bei Vater und Mutter aufwächst. 

Die wachsende Anzahl von Patchworkfamilien ist aber fast noch ohne rechtliche Regelungen. In Frankreich zum Beispiel können diese Familien erst seit kurzem die „carte famille nombreuses“ - die „Großfamilienkarte“ der französischen Bahn (SNCF) - beantragen, die nicht nur beim Bahnfahren, sondern auch beim Eintritt in Museen Vergünstigungen schafft. Finanziell sind gerade solche Familienmodelle benachteiligt, weil es wenig genaue rechtliche Regelungen gibt, das fängt schon bei der Steuer an. Die Stiefeltern sollen zwar für die im Haushalt lebenden Kinder mit zahlen, haben aber absolut keine Rechte auf Mitbestimmung über deren Erziehung.

In Deutschland sind Stiefeltern genauso rechtlos wie in Frankreich. Und wenn schon der Status von Stiefeltern in europäischen Staaten nicht rechtlich geregelt ist, wie sollte es dann der von Leihmüttern, Eizellen- und Samenspendern sein? Leihmütter sind in Europa in vielen Staaten illegal, Eizellen- Samenspenden nur unter bestimmten medizinischen Bedingungen zugänglich (homosexuelle Paare sind hier meist ausgeschlossen). Dies schafft einen illegalen Markt, einen „Tourismus der Reproduktion“, der sich quer durch Europa und über seine Grenzen hinaus zieht. 

Einmal gezeugt oder geboren, werden aber auch die Gebote und Verbote vor vollendete Tatsachen gestellt. So zeigt es der Fall der fünfundsechzigjährigen Berlinerin, die gerade nach Eizellen- und Samenspende mit Vierlingen schwanger ist. Diese Frau ist nicht nur bereits Mutter von dreizehn Kindern, sondern auch noch alleinerziehend. Heute werden viele entsetzte Stimmen laut. Aber könnte es sein, dass die alten Mamis von heute, die jungen Mütter von morgen werden? Immerhin lassen immer mehr junge Frauen ihre Eizellen einfrieren, kriegen das zum Teil auch vom Arbeitgeber bezahlt, und wahrscheinlich handeln sie dabei genau richtig, wenn sie in ihrem Leben das Kinderkriegen mit einem Karrierewunsch vereinbaren wollen. 

Konsumgeprägter Reproduktionstourismus 

Dies sei eine Zukunftsperspektive für viele Karrierefrauen, meint Bernard H., der als Gynäkologe in Paris arbeitet: "Sie frieren ihre Eizellen mit Mitte dreißig als ledige Frauen ein, um diese Jahre später mit dem Sperma ihres zukünftigen Mannes befruchten zu lassen und auszutragen." Für den Gynäkologen, der eine erfolgreiche Kinderwunschpraxis leitet, liegt das Problem vor allem in der Widersprüchlichkeit des europäischen Raumes. "Es gibt keine einheitliche Kontrolle", beklagt er. "In Frankreich dürfen Embryonen eingefroren werden, in Deutschland nicht. In Belgien dürfen homosexuelle Paare künstliche Befruchtung erhalten, in Frankreich und Deutschland nicht. Diese müssen dann viel Geld im Ausland ausgeben, um Kinder zu bekommen." 

Dabei wird der Kinderwunsch als menschliches Grundbedürfnis aufgefasst. Durch den widersprüchlichen und zum Teil auch sehr strengen Gesetzesdschungel in Europa verkommt er aber zum konsumgeprägten Reproduktionstourismus. Und letztendlich werden die Menschen in diesem Durcheinander doch immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. "Wenn die Mädels einmal schwanger sind", erklärt Bernard H. in Bezug auf homosexuelle Paare, "dann behandele ich sie auch". Dabei stößt er nicht immer auf das Wohlwollen seiner heterogenen Patienten: "Immer wieder werde ich darauf angesprochen, wenn Lesben im Wartezimmer sitzen und Händchen halten. Ich sage den Leuten: Das sind normale schwangere Frauen und die entbinde ich auch".

Simone führt seit vier Jahren eine eingetragene Lebenspartnerschaft mit ihrer Partnerin, jede von ihnen hat nach einer künstlichen Befruchtung ein Kind bekommen. "Meine kleine Schwester hat ihre künstliche Befruchtung bezahlt bekommen, weil ihr Mann, ein Kettenraucher, kein Sperma mehr hatte, meine Partnerin und ich mussten dafür unsere Ersparnisse aufbrauchen", erzählt sie bitter. Für sie sei das pure Diskriminierung.

Bei Leihmüttern ist die Gesetzeslage noch komplizierter. In Belgien dürfen nur Belgier diese Hilfeleistung in Anspruch nehmen, in Deutschland und in Frankreich ist es verboten. "Die Inderinnen sind da ganz groß im Geschäft", erklärt Bernard H., "und oft bezahlen sie mit dem Leben dafür, weil sie eine Schwangerschaft nach der anderen austragen, um ihre Familien zu unterhalten. Das Ganze wird viel zu schlecht bezahlt, pure Ausbeutung." Wäre es da nicht besser, einheitliche Gesetze zu schaffen, die den modernen Bedürfnissen europäischer Bürger entsprechen? "Sicher", meint der Experte, "aber dazu müsste man sich erst mal einig werden. Das europäische Parlament hat viele Chancen verstreichen lassen".

Anders leben

In Deutschland jedenfalls steigt die Geburtenrate mit 1,41 Kindern pro Frau in 2014 nicht sonderlich, dafür werden Mütter immer älter. Wir leben immer anders, und das sollte die Politik auch berücksichtigen, dann würden sich langsam auch rechtskonservative Protestierer an die neuen Familienverhältnisse gewöhnen. Anstatt unsere Zeit damit zu verbringen, mit dem Finger auf die zu zeigen, die neue Wege gehen, und über „abartigen Entwicklungsarten“ zu wettern, sollten wir lieber unsere Kräfte sammeln und an den entsprechenden gesellschaftlichen Formen und Regelungen mitarbeiten, die diese neuen Lebensformen definieren.

In ihrem Buch Konrad oder das Kind aus der Konserve von 1985 kritisierte Christine Nöstlinger vor allem den Perfektionismus der „künstlichen Kinder“ in der Geschichte. Am Ende wird aus dem perfekten Konrad dank der richtigen Umerziehung aber dann doch noch ein „normales“ Kind. Wir sollten uns vor allem an dieses Lehrstück der Kinderliteratur halten: Konservenkinder sind ok, nur dürfen wir keinen Perfektionismus erwarten, keine absolute genetische Kontrolle etablieren.