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Klebstoff für den Balkan

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Vor Jahren hat die EU den Staaten des früheren Jugoslawiens den Beitritt versprochen. Jetzt treten die ersten Politiker auf die Bremse – und setzen damit die Stabilisierung des Balkans aufs Spiel.

Eigentlich war es von der Europäischen Kommission gar nicht anders zu erwarten: Im Mai stellte sie einen Bericht vor, nach der die vergangene Osterweiterung für die alten und neuen Mitgliedsstaaten der EU ein „wirtschaftlicher Erfolg“ war. Überall in Europa sind Arbeitsplätze entstanden – egal ob in Krakau oder Kopenhagen. Die neuen Staaten konnten schon im Vorfeld der Erweiterung starkes Wirtschaftswachstum verzeichnen und den alten ging es dadurch zumindest nicht schlechter. Auch die Angst vor unkontrollierter Migration von Ost nach West hat sich kaum bewahrheitet.

Gähnen in Europa

Trotzdem herrscht in Europa keine Erweiterungs-Euphorie. Zwar umfasst die Liste der Kandidaten und potenziellen Interessenten fast alle Staaten, die eine Grenze mit EU-Mitgliedsstaaten teilen. Aber den Menschen in Europa wird Erweiterungsmüdigkeit nachgesagt. Dabei sind es die Politiker, die am meisten gähnen. Sie wollen bei zukünftigen Erweiterungen noch flächendeckender die Bevölkerung befragen, obwohl die Ablehnung des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden Umfragen zufolge eher auf einen „Globalisierungsblues“ und weniger auf einen „Erweiterungsblues“ zurückzuführen ist.

Manche Politiker wie der Europaparlamentarier Elmar Brok (EPP) denken über neue Beitrittsformen unterhalb der Vollmitgliedschaft nach, die sie „Europäischer Wirtschaftsraum Plus“, „Privilegierte Partnerschaft“ oder „Erweiterte Nachbarschaft“ nennen wollen. Wie so eine Mitgliedschaft zweiter Klasse allerdings aussehen könnte, sagen sie nicht. Und schließlich wollen einige vor neuen Erweiterungen die „Absorptionskapazität“ der EU noch gründlicher prüfen.

Den Begriff gibt es schon, seit 1993 die „Kopenhagen Kriterien“ benannt wurden, die die Kandidaten erfüllen müssen, um der EU beitreten zu können. Bei der letzten Osterweiterung setzte er aber vielmehr die EU unter Zugzwang. Kriterien wie Demokratie, die Übernahme des Acquis Communautaire und Rechtsstaatlichkeit waren konditional für die Kandidaten, Aufnahmefähigkeit war konditional für die EU. Alle mussten sich reformieren. Eine echte Hürde für die Kandidaten war die „Absorptionskapazität“ also bisher nicht. Und der österreichischen Ratspräsidentschaft ist es wohl zu verdanken, dass sie es auch im letzten halben Jahr nicht wurde.

Auf ihrem jüngsten Gipfel im Juni haben die Staats- und Regierungschefs die Kommission beauftragt, bis zum Herbst einen Bericht zur „Aufnahmefähigkeit“ zu erstellen, um im Dezember darüber zu debattieren. Dann dürften auch die Stimmen derjenigen wieder laut werden, die die Grenze der EU quer durch den Westbalkan ziehen möchten. Kroatien soll noch aufgenommen werden, wenn möglich als Nachzügler in der Bulgarien-Rumänien-Welle.

Handfeste Interessen, moralische Verpflichtung

Aber genau das wäre gefährlich. Während die Staaten Ex-Jugoslawiens vor zehn Jahren noch durch Kriege und Konflikte getrennt waren, ist die europäische Perspektive inzwischen zu dem Klebstoff geworden, der sie zusammenhält und zu inneren Reformen bewegt. Wie vorher schon Millionen Andere zieht die EU die Menschen auf der Balkanhalbinsel an.

„Die Leute wissen, dass sie sich anstrengen müssen, um in die EU zu kommen. Aber diese Anstrengungen machen nur Sinn, wenn sie die Früchte ihrer Anstrengung auch in der EU ernten können“, sagt Hannes Swoboda, stellvertretender Vorsitzender der Südosteuropa-Delegation des Europäischen Parlaments. Das könnte sich schnell ins Gegenteil verkehren, glaubt der österreichische Parlamentarier: „Ohne Perspektive kommt es zur wirtschaftlichen und sozialen Depression in den Staaten. Die Abwanderung nach Europa würde noch zunehmen.“

Die deutsche EU-Abgeordnete und Sicherheitsexpertin Angelika Beer von den Grünen geht noch weiter: „Wenn man den Menschen in Mazedonien, Montenegro, Serbien, Bosnien oder im Kosovo ihre Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft nehmen würde, würde das bedeuten, dass wir die nächsten Truppeneinsätze vorbereiten könnten.“ Die EU stehe in der Verantwortung, die ethnische Aufsplitterung des Balkan, die durch die Abkommen von Dayton oder auch Ohrid noch manifestiert worden sei, zu überwinden.

Abseits von ökonomischen und Sicherheitsinteressen spielen auch Prinzipien und Werte in der Erweiterungspolitik eine Rolle. Die Osterweiterung war nicht nur wirtschaftlich ein Gewinn, sondern wurde von vielen als eine „historische Chance“ zur „Wiedervereinigung Europas“ gesehen. Die Mitgliedsstaaten sahen sich moralisch in der Pflicht, die Staaten in die EU aufzunehmen auch wenn es nicht unbedingt ihren Interessen entsprach – genau wie sich die neuen Staaten des Ostens jetzt den Bewerbern im Südosten zur Solidarität verpflichtet fühlen. „Wir können nicht durch die Tür schlüpfen uns sie einfach hinter uns zuziehen“, sagt ein Brüsseler Diplomat aus einem der neuen Mitgliedsstaaten.

Und schließlich haben die Staats- und Regierungschefs der EU den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ihr Wort gegeben. Beim Gipfel in Thessaloniki 2003 stellten sie ihnen eine Mitgliedschaft in Aussicht, sobald sie die Kriterien erfüllen. Ein Versprechen übrigens, über das sich – demselben Diplomaten zufolge – in Berlin und Paris die ersten Regierungsbeamten schon kräftig ärgern. Denn wenn man nun den Beitritt der Balkanstaaten auf die lange Bank schieben würde, wäre das nicht nur sicherheitspolitisch gefährlich. Es wäre auch unmoralisch.