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Kein Frühling in Belarus

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Gesellschaft

[KOMMENTAR] Fast hatte man sie vergessen, diese Bilder vom fiesen Diktator mit Schnauzbart, der Demonstranten verprügeln und politische Gegner ins Gefängnis werfen lässt. Doch der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko ist sich leider treu geblieben. 

Eine Kundgebung in Minsk anlässlich des Tags der Freiheit am 25. März wurde bereits im Keim erstickt. Hunderte friedliche Demonstranten, selbst Pensionäre und unbeteiligte Passanten, wurden in Gefangenentransporter gezerrt und von Sondereinheiten der Polizei von den Straßen der Hauptstadt geprügelt. Bereits zuvor stürmten Polizeikräfte das Büro der Menschenrechtsorganisation Viasna und verhafteten die dort Anwesenden, um sie an der Beobachtung der Proteste zu hindern. Das gleiche Schicksal ereilte bereits am Vorabend das Büro der Grünen Partei - zehn der dort Anwesenden wurden zu Haftstrafen von 10-15 Tagen verurteilt. Ihr Vergehen: sie hatten Spenden, Lebensmittel und Kleidung für verhaftete Demonstranten gesammelt. Denn die Kundgebung vom 25. März war kein Einzelfall. Bereits zuvor wurden landesweit seit Anfang März mehr als 300 Menschen verhaftet.

Schmarotzer-Steuer den Kampf ansagen

Seit Mitte Februar finden in Belarus landauf landab Proteste gegen das Präsidenten-Dekret Nr. 3 statt. Demnach sollen diejenigen, die länger als 6 Monate im Jahr erwerbslos sind, als Strafe eine so genannte „Schmarotzer-Steuer“ von ca. 185 Euro zahlen. Das ist eine gehörige Summe in einem Land, in dem sich das monatliche Durchschnittseinkommen laut Auswärtigem Amt auf 350 Euro beläuft und gegenüber dem Vorjahr um 3,9% gesunken ist. Und plötzlich gehen Menschen jeglichen Alters auf die Straße, um zu demonstrieren - viele zum ersten Mal überhaupt.

In der Tat sind die Proteste in dieser Form bisher einmalig in Belarus. Sie finden anders als klassische Proteste der Opposition nicht nur in Minsk, sondern auch in kleineren und größeren Orten statt. In Internet-Videos sieht man viele ältere und ländliche Einwohner auf das Dekret Nr. 3 und auf ihren Präsidenten schimpfen. Dabei galten Landbevölkerung und Pensionäre bisher als treue Unterstützer Lukaschenkos - der ihnen im Gegenzug pünktliche Rentenzahlungen und eine gewisse soziale Stabilität garantierte. Verständlich also, dass Batka, das Väterchen, wie man Lukaschenko nennt, nervös wird, wenn seine Landsleute plötzlich rebellieren.

Batka wird nervös

Denn seit bald 23 Jahren regiert er Belarus mit harter Hand und duldet keinen Widerspruch. Im Alter von gerade mal 62 Jahren stehen dem Land wohl weitere Amtszeiten des scheinbar ewigen Präsidenten bevor. Denn dass sich Lukaschenko von Pseudo-Wahlen alle 5 Jahre nicht irritieren lässt, zeigte er im Dezember 2010. Noch am Wahlabend wurden damals mehrere oppositionelle Präsidentschaftskandidaten von Sicherheitskräften zusammengeschlagen und in Gefängniszellen geworfen. Zwei von ihnen kamen erst nach Jahren wieder frei, zuletzt Mikalaj Statkewitsch im August 2015.

Jener Mikalaj Statkewitsch, ein oppositioneller Sozialdemokrat, hatte nun neben anderen zur Demonstration am 25. März in Minsk aufgerufen. Der belarussische Geheimdienst verhaftete ihn daraufhin am Tag der Kundgebung, bestritt aber jede Kenntnis über seinen Verbleib. Erst zwei Tage nach der Demonstration ließ ihn der KGB gehen, der hier ehrlicherweise noch immer so heißt wie zu Zeiten der Sowjetunion.

Wurden die ersten Proteste gegen das Dekret Nr. 3 von den überraschten Behörden zunächst geduldet, hat man die Daumenschrauben inzwischen spürbar angezogen. Auch die vom Regime marginalisierte Opposition wurde von den Protesten überrascht und bemühte sich in den vergangenen Wochen, den bisher spontanen, improvisierten Protesten mehr Struktur und Zielrichtung zu geben. Als sich abzeichnete, dass die Proteste anhalten, sich ausbreiten und größer würden, begann das Regime ab Anfang März, gegen Organisatoren und Teilnehmer der Proteste sowie darüber berichtende unabhängige Medien vorzugehen.

So wurden neben Mikalaj Statkewitsch auch Wital Rymascheuski und Pawel Siewjarynets, zwei Co-Vorsitzende der belarussischen Christdemokraten festgenommen und zu Haftstrafen von 15 Tagen verurteilt. Das 1996 gegründete Menschenrechtszentrum Viasna zählte seit Anfang März mehr als 1100 Verhaftungen: 266 Menschen wurden zu Haftstrafen von 2 bis 25 Tagen verurteilt, in 159 Fällen wurden Geldstrafen verhängt.

Nach Viasna und der Grünen Partei wurden am 31. März auch die Büros des unabhängigen TV-Senders Belsat von der Polizei gestürmt, denn Belsat hatte seit Wochen umfassend über die landesweiten Proteste berichtet. Einer der aktivsten Oppositionellen, Zmitser Daschkewitsch, wurde ebenfalls festgenommen. Der Anführer der „Jungen Front“ verbüßte wegen seines friedlichen Widerstands gegen das Regime bereits zwei langjährige Haftstrafen und wurde jeweils als Gewissensgefangener von Amnesty International anerkannt. Ihm, dem Vater zweier kleiner Kinder, droht zusammen mit weiteren Beschuldigten nun eine Anklage wegen des Schürens von Massenunruhen. Bisher deutet vieles darauf hin, dass die Anschuldigungen vom Regime frei erfunden sind, um ihn für einige weitere Jahre wegzusperren.

Doch kein Frühlingserwachen

'Im Osten nichts Neues also' möchte man sagen, wenn man die aktuellen Geschehnisse mit den vergangenen zwei Jahrzehnten unter Lukaschenko vergleicht. Aber hatte nicht manch ein Beobachter sogar bereits von einem „belarussischen Frühling“ gesprochen, der Möglichkeit vom Anfang vom Ende der Diktatur?

Natürlich, die nun erstmals landesweiten, generationenübergreifenden Proteste sind in Belarus etwas nie zuvor Dagewesenes. Viele Menschen sind unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Situation und die „Schmarotzer-Steuer“ macht sie zusätzlich wütend. Aber eine Massenbewegung sind die Proteste bisher nicht. Belarus ist nicht nur sprichwörtlich ein Polizeistaat. Die Repressionen gegen Andersdenkende sind spürbar und real. Gleichzeitig kann man aber auch in Belarus ein ganz normales Leben führen, sein privates Glück suchen und sich aus der Politik heraushalten. Verärgert man das Regime nicht, lässt einen dieses weitgehend in Ruhe. Und die staatlich kontrollierten Medien tun ihr übriges, um die Menschen subtil vor den Gefahren eines belarussischen Maidan und vor der Teilnahme an Protesten zu warnen.

So ist es auch die in Diktaturen allzu verständliche Angst vor den möglichen Folgen, die viele Menschen davon abhält, ihren Unmut auf die Straße zu tragen. In Minsk, einer Stadt mit fast 2 Millionen Einwohnern, wagten sich wohl auch deshalb am 25. März weniger als 2000 Menschen zur geplanten Kundgebung. Neben dem kalten Winterwetter an diesem Tag verfestigt sich auch dadurch der Eindruck, dass es vorerst keinen Frühling in Belarus geben wird.

Sicherlich, selbst lange Zeit als stabil geltende Diktaturen enden manchmal recht plötzlich und unerwartet. Und zu wünschen ist den Menschen in Belarus ein Leben in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit einer prosperierenden Wirtschaft in jedem Fall - so wie in den baltischen Nachbarstaaten, drei ebenfalls ehemaligen Sowjetrepubliken.

Doch neben Lukaschenko gibt es noch jemanden, der einen Wandel im Nachbarland nicht zulassen wird - Wladimir Putin. Für den Herrscher im Kreml ist Belarus stärker noch als die Ukraine ein unverzichtbarer Bruderstaat und wichtiger Teil seines Machtbereichs. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 und Putins Unterstützung der Separatisten im Donbass darf man daher in Belarus für eine Zeit nach einem etwaigen Umsturz von Lukaschenko leider gar nichts mehr ausschließen. Und ein Krieg, ein Einmarsch russischer Truppen, wäre das schrecklichste aber nicht unwahrscheinlichste unter allen denkbaren Szenarien. Aus dieser Perspektive ist dann selbst Lukaschenko das kleinere Übel. Auch bei ihm sollte man sich fast sicher sein, dass er freiwillig die Macht nicht abgeben und wie Janukowitsch in der Ukraine am Ende auf sein Volk schießen lassen wird.

Die Aussichten für Belarus sind demzufolge wenig „frühlingshaft“, sondern eher winterlich düster. In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob die Proteste gegen die „Schmarotzer-Steuer“ und die allgemeine wirtschaftliche Misere immer mehr Menschen auf die Straßen treiben. Für den 26. April sind der traditionelle Tschernobyl-Marsch und für den Tag der Arbeit am 1. Mai eine weitere Kundgebung in Minsk angekündigt. Menschenrechtsorganisationen befürchten dann gerade nach den jüngsten Geschehnissen weitere Massenverhaftungen und die weitere Zunahme staatlicher Verfolgung Andersdenkender.

Hier könnten klare Worte und Taten seitens demokratischer Staaten und der EU helfen. Denn will sich Lukaschenko wirtschaftlich und machtpolitisch nicht vollkommen an Russland ausliefern, ist er auf wirtschaftliche Zusammenarbeit und Hilfskredite aus dem Westen angewiesen. Speziell die EU könnte durch die Androhung wirtschaftlicher Sanktionen ein Ende der Verhaftungswelle und die Freilassung aller politischen Gefangenen in Belarus erreichen. Belarussische Oppositionelle und Menschenrechtler kritisieren zu Recht, dass das Regime offenbar genug Mittel für die Anschaffung modernster Gefangenentransporter und Polizeifahrzeuge zur Verfügung hat - während gleichzeitig viele Menschen im Lande in Armut leben. Hier müssen westliche Geldgeber genau kontrollieren, was mit ihren Hilfskrediten vor Ort eigentlich finanziert wird.

Die Botschaft des Westens an Lukaschenko sollte deutlich ausfallen: wirtschaftliche Zusammenarbeit und weitere Kredite nur noch als Gegenleistung für die Achtung der Menschenrechte. Einen Polizeistaat sollte man nicht länger mitfinanzieren. Dafür wäre dann in der Tat Putin der bessere Ansprechpartner für Lukaschenko.

Eines ist sicher: irgendwann wird der politische Frühling auch in Belarus Einzug halten. Wahrscheinlich kann dies erst dann passieren, wenn es beim großen Bruder Russland zu einem demokratischen Wandel kommt. Bis dahin sollten wir uns für die verfolgten Oppositionellen, Menschenrechtler und Journalisten sowie für die Freilassung der politischen Gefangenen in Belarus engagieren. Und wir sollten selbst ins Land reisen, um die Menschen kennenzulernen - abenteuerlich mit dem Nachtzug oder seit Anfang des Jahres sogar visafrei für 5 Tage bei Einreise per Flugzeug.

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Der Autor dieses Artikels ist Mitglied der NGO Libereco - Partnership for Human Rights, die sich für die Achtung politisch-bürgerlicher Menschenrechte einsetzt.