Karneval in Cádiz: Brot und Wodka in Zeiten der Krise
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Kathleen ZiemannTrotz drastischer Sparmaßnahmen ist der Karneval in Cádiz, der vom 16. bis 26. Februar stattfand, nach wie vor ein prachtvolles Spektakel. Ein junger Franzose hat sich von den Feierlichkeiten mitreißen lassen und will wissen: Ist das Fest nur ein Mittel, die Wut der Bevölkerung zu lenken? Oder geht es angesichts der Krise die das Land bedroht vor allem um den Wunsch nach Gemeinschaft?
In diesem politisch und wirtschaftlich überreizten Klima könnte der schlecht informierter Europäer eine angespannte Atmosphäre während der Feierlichkeiten in Cádiz erwarten – doch da kennt er die Andalusier schlecht. Der Karneval ist prachtvoll wie eh und je. Vielleicht bekommt er gerade in Krisenzeiten erst seine volle Bedeutung. Denn seit der römischen Antike ist der Karneval „panem et circenses“ (Brot und Spiele) ein Mittel, die Wut des Volkes zu kanalisieren und die Aufmerksamkeit von den sozialen und politischen Problemen abzulenken. Diese Tradition setzt sich bis ins Mittelalter fort, wo die Bauern im Karneval das Recht erhielten, sich an den Tisch der Adeligen zu setzen und sie für einen Tag nachzuäffen. In Cádiz (Südspanien) geht die Tradition des Karnevals mehrere Jahrhunderte zurück und setzt sich von Generation zu Generation fort. Alle Gaditanos (Bewohner von Cádiz) von 1 bis 99 ziehen verkleidet durch die Straßen. Doch seit einigen Jahren zieht es auch andere zu den Festlichkeiten: junge europäische Erasmus-Studenten feiern mit.
Generation Erasmus goes to
Emeline ist eine von ihnen, die 20-Jährige von der Pariser Universität Sorbonne ist Erasmus-Studentin in Cádiz und führt uns durch die Stadt. Eigentlich teilt sie ihre Wohnung mit zwei Engländern, aber seit 10 Tagen ist ihr gemütliches Nest eine wahrer Taubenschlag: Engländer, Belgier, Franzosen und Amerikaner wechseln sich in den Gästebetten ab. Kaum am Bahnhof angekommen, haben wir es eilig. Wir streifen uns schnell die Verkleidungen über und ziehen Richtung Hauptplatz. Schnell vermischt sich in den Gesprächen Englisch, Französisch und Deutsch mit Spanisch. Alle schwingen ihre Hüften zu bekannten Rockklassikern, die mit spanischen Klängen gewürzt sind. Der Alkohol fließt in Strömen, die Luft riecht nach Haschisch. Weit weg von den allgemeinen Sparmaßnahmen in Europa, weit entfernt von den wiederholten Beschränkungsplänen und Ministerialbeschlüssen amüsiert sich die Generation Erasmus.
Politische Forderungen scheinen die Teilnehmer nicht zu interessieren. Schließlich ist man hier, um zu feiern. Was soll das also? Dabei fehlt es den jungen Europäern nicht an Gründen zum Protest. In Spanien wurden Studenten während einer Demonstration von der Polizei angegriffen. In Griechenland hat die Regierung eine weitere drastische Budgetkürzung beschlossen und dabei alle verzweifelten Appelle der Bevölkerung in den Wind geschlagen. In Frankreich schließlich sind die Aussichten nicht viel besser: Die Arbeitslosigkeit steigt, Studenten leben in immer unsicheren Verhältnissen... Die Bilanz sieht nicht gut aus, aber was soll's. Ein Flamenco-Sänger stimmt passenderweise für diesen Abend „Let it be“ an.
„Nach sechs Monaten in Cádiz kenne ich noch immer nicht den Namen des Bürgermeisters, geschweige denn seine politische Einstellung“
„Wir sind hier quasi von der Welt abgeschnitten. Die Politik ist weit weg“, gesteht die junge Austauschstudentin. „Nach sechs Monaten in Cádiz kenne ich noch immer nicht den Namen des Bürgermeisters, geschweige denn seine politische Einstellung.“ Der Karneval ist eine Tradition der Antike, die aktuelle Krise wird da nicht die Stimmung der Gaditanos vermiesen: „Sie haben einfach viel zu große Lust zu feiern, als sich davon niedermachen zu lassen.“
Unpolitisch heißt nicht uninteressiert
Hatten die Römer recht? Brot und Spiele halten das Volk bei Laune und das Blutvergießen kann weitergehen? Absolut nicht. Denn wer unpolitisch mit uninteressiert gleichsetzt irrt: „Aufgrund der Krise mussten viele Geschäfte schließen, auch ein Hausprojekt, das kostenlose Kulturaktivitäten angeboten hat“, bedauert Emeline.
Dem wirtschaftlichen Stillstand begegnen die Andalusier auf ihre ganz eigene Art. Im Labyrinth der Straßen von Cádiz bilden sich an jeder Kreuzung kleine Gruppen, die Lieder auf Spanisch anstimmen. In ihren Verkleidungen als Nonnen, Señoritas und anderen Clowns machen sich sich über die Eliten und die Mächtigen lustig. Ihre Botschaft ist aber ernst gemeint. Mit ihren Gesängen - den sogenannten „coros“ - nehmen sie die sozialen und wirtschaftlichen Missstände des Alltags aufs Korn. Andere treiben die Satire noch weiter. So begegnet man dem spanischen Radrennfahrer Contador, der die französische Flagge schwingt oder einem Mini-Berlusconi, dicht gefolgt von einem Anonymus. Es sind die Menschen, die den Karneval zu dem machen, was er ist.
„Die Kultur ist das Fundament des europäischen Zugehörigkeitsgefühls“
Nach einer alkoholreichen und schlaflosen Nacht neigt sich der Karneval seinem Ende zu. Es ist Zeit zu gehen. Am frühen Morgen läuft mir ein Tarzan über den Weg, der seinen Knüppel nur noch über den Boden schleift, das Café auf der anderen Straßenseite hat bereits geöffnet, Zeit sich wieder an die Arbeit zu machen. Auch die Erasmus-Studenten müssen wieder zurück an die Uni. Emeline sorgt sich: „Bis Semesteranfang muss ich drei Hausarbeiten schreiben und ich habe bisher noch gar nichts gemacht!“
Ist ihr bewusst, dass sie Teil der Generation Erasmus ist? Unpolitisch, klar, aber nicht uninteressiert, sieht sie Europa anders, ein solidarischeres Europa, mit fließenden Grenzen. Der Karneval von Cádiz ist mehr als ein einwöchiger Exzess, es gibt dort mehr als bloßen Spaß: „Die Kultur ist das Fundament für das europäische Zugehörigkeitsgefühl“ hat vor einiger Zeit der große Denker Umberto Eco gesagt. Er hat Recht in vielerlei Hinsicht. Im Laufe der Karnevalswoche gab es keine britische Euroskepsis, keine deutsche Härte und keine französische Überheblichkeit. Es gab einzig die Gemeinschaft.
Trotz der allgemeinen Wirtschaftskrise, ist der Karneval in Cádiz also ein Grund, das Zusammenleben in Europa zu fördern: Er verkörpert die Neuentdeckung des europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls. Sollte man daran glauben? Ich hoffe es. Oder ich habe noch zu viel Karneval im Blut.
Illustrationen: Homepage (cc)Chreriksen/Christer Hansen Eriksen; Im Text ©Emeline Idil; Video (cc)carncadable/ YouTube
Translated from Carnaval de Cadix : régime, pain sec et vodka face à la crise