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Kancha: Start-up aus Kirgistan für digitale Stadtnomaden

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Politik

Was hat Filz aus Kirgistan mit dem hektischen Leben in europäischen Großstädten zu tun? Auf den ersten Blick wenig – dabei haben die kirgisischen Nomaden der Hochebenen jede Menge mit den „urbanen“ Nomaden Berlins, Londons und Stockholms gemeinsam.

Ein eisiger Wintertag in Berlin Mitte. Im Mogg&Melzer schält Tobias Gerhard (27) sich aus seiner Jacke – er ist ein bisschen zu spät, zu viele Dinge stehen auf der Agenda und die Koffer sind quasi schon wieder gepackt zur Abreise. Kurzer Blick aufs Handy: „In Kirgistan sind es acht Grad, das ist doch gar nicht so schlecht.“

Verbindung von Tradition und Moderne

Im Oktober 2012 hat der Master-Student der Public Policy die Seminarräume der Humboldt-Viadrina School of Governance Berlin gegen Bischkek, Hauptstadt des zentralasiatischen Kirgistans eingetauscht. „Es ging darum, ein konkretes Projekt umzusetzen, welches gesellschaftlichen Wandel anstrebt“, erklärt Tobias. Dass er dieses Projekt in Kirgistan durchführen würde, war schnell klar: Seine kirgisische Freundin Maya lebt und arbeitet dort, das Paar hat sich beim Studium in Budapest kennengelernt. Kancha heißt nun das Unternehmen, mit dem die Filzkunst Kirgistans es in die europäischen Großstädte schaffen soll. Die Idee dahinter: Die Verbindung von Tradition und Moderne in Form von Designer-Taschen aus kirgisischem Filz für Laptops, Smartphones, Tablets und e-Reader. In den Filz-Taschen verbinden sich die immer noch vorhandene nomadische Kultur Kirgistans mit den Bedürfnissen der „urbanen Nomaden“, wie Tobias sie nennt: „Als Großstädter ist man heutzutage doch sehr mobil, hat oft kein festes Büro mehr, sondern arbeitet in Cafés, working spaces, auf dem iPad“.

Produkte und Zielgruppe sind also klar – bliebe noch die Sache mit dem gesellschaftlichen Wandel, den das Projekt anstreben soll. Den ersten Schritt in diese Richtung hat Tobias bereits mit der Wahl seines Materials gemacht: Das Filz-Handwerk ist in Kirgistan immer noch sehr angesehen und weit verbreitet, dort produzierter Filz steht weltweit für höchste Qualität. Die meisten Filz-Hersteller werden allerdings nicht angemessen für ihre Arbeit entlohnt, ein großer Prozentsatz von ihnen ist nicht sozialversichert. „Eins ist klar“, sagt Tobias, „es muss fairen Lohn und sichere Arbeitsbedingungen geben.“ Verantwortung wird zu oft einfach abgegeben, findet der Student. Deshalb ist es ihm wichtig, vor Ort zu sein und den Produktionsprozess zu kontrollieren.

Doch so sehr die sozialen Ziele auch im Vordergrund stehen: Sie sind das einzige, was Kancha mit klassischen NGOs gemeinsam hat. Denn das Unternehmen soll, wenn es mal läuft, durchaus Profit abwerfen. Ein riesiges Budget hat Tobias dabei nicht zur Verfügung. Sein Ziel ist es momentan, eine Kollektion von mehreren hundert Taschen zu produzieren: Ein paar Entwürfe sind fertig, die Taschen werden es erst in einigen Monaten sein.

Fair trade? Muss nicht sein

Die Verbindung von wirtschaftlichen und sozialen Zielen sieht auf dem Papier zunächst gut aus, leicht umzusetzen ist sie nicht. Das liegt nicht nur an kaum vorhandenen finanziellen Mitteln, sondern auch an den Strukturen in Kirgistan. Das Land hat sehr unter dem Zerfall der Sowjetunion gelitten, gilt als instabil. Vor allem zwischen den ethnischen Minderheiten gibt es immer wieder Auseinandersetzungen, zuletzt 2010, als sogar die Regierung gestürzt wurde. Auf der Suche nach Kooperationspartnern für Kancha ist vor allem die Sprache ein Hindernis: Tobias lernt zwar Russisch, viele Einwohner Kirgistans sprechen aber nach wie vor Kirgisisch. Statt selber mit potenziellen Partnern zu verhandeln, muss der studentische Unternehmer sich oft auf andere verlassen. Auch die Einstellung zu zeitlichen Abläufen und Qualität behindern den Aufbau von Kancha. Vieles passiert langsamer als in Deutschland, in Kirgistan wird mit der Zeit großzügiger umgegangen.

Das größte Hindernis auf dem Weg zum Kancha-Erfolg dürfte jedoch das Überangebot an Projekten sein, die alle die Welt ein bisschen verbessern, sie schöner, gerechter, lebenswerter machen möchten. Das weiß auch Tobias: „Man muss klar sagen: Ich bin nicht der Einzige, der die Idee hatte, Unternehmen und soziales Denken zusammenzubringen.“ Er versucht deswegen, die Geschichte hinter seinem Projekt zu erzählen, Menschen, die daran beteiligt sind, sichtbar zu machen. Kancha, so wünscht es sich Tobias, soll eine Verbindung zwischen Produkt und Konsument herstellen: „Jede Tasche wird ein kleines Label haben, auf dem der Name des Filz-Herstellers steht. Der Steckbrief sowie ein Foto dieser Person wird sich dann auf der Webseite finden.“ Der Blog soll sämtliche Produktionsprozesse offenlegen, auch die Löhne der Arbeiter und Arbeiterinnen – Transparenz steht auf der Prioritätenliste ganz oben. Wer so transparent arbeitet, glaubt Tobias, kann auch auf Labels wie Fair Trade verzichten, die oft mehr Geld kosten würden, als es die gute Idee dahinter wert wäre.

Tobias geht es um nichts weniger, als um den Wert der Arbeit – das zeigt schon der Name des Unternehmens. „Kancha“, sagt Tobias „ist ein Ausdruck, den man in Kirgistan oft auf dem Markt hört. Er bedeutet: Wie viel? Wie teuer?“ Für den Studenten ist jetzt schon klar: Der Umzug nach Kirgistan hat sich gelohnt, auch wenn der Profit noch auf sich warten lässt.

Illustrationen: Mit freundlicher Genehmigung von ©Tobias Gerhard