Jungunternehmer in SEVILLA: Ein Hauch von Wahnsinn
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Barbara BraunGibt es noch Unternehmen, die nicht in der Krise stecken? In Sevilla haben es Mayte, Alejandro und Ana gewagt, dem allgemeinen Niedergang der spanischen Wirtschaft zu trotzen und ihre eigene Firma zu gründen. Sie alle haben etwas gemeinsam: ihre Kleinunternehmen sind Genossenschaften.
In Frankreich und Spanien verbindet man mit „Coop“ eigentlich ein paar schnauzbärtige, alte Weinbauern oder ein utopisches Modell der 68er-Generation, das an der wirtschaftlichen Realität zerschellt ist. Im krisengeschüttelten Andalusien schießen gerade Genossenschaften wie Pilze aus dem Boden. Sie beschränken sich bei weitem nicht auf die Landwirtschaft, wie zu Großvaters Zeiten (das trifft nur mehr auf rund 14% der spanischen Genossenschaften zu; Anm. der Redaktion). Die „Coop“ gibt es jetzt in Version 2.0. Das Prinzip ist einfach: mindestens drei „Socios“ (Partner) tragen zu gleichen Anteilen zur Firma bei, entscheiden gemeinsam, ohne Hierarchie. Im Gegensatz zu klassischen Unternehmen, sind die Angestellten gleichzeitig Investoren und werden in alle Produktionsvorgänge eingebunden.
FERN AB DER KLISCHEES: DIE „COOP“ VERSION 2.0
Ana und Alejandro arbeiten in einem modernen Viertel am Stadtrand. Sie sind die Chefs von Marketing Online. Ironie des Schicksals: die Gebäude an der Avenida Tecnologia, wurden vor der Krise als neues Businesscenter gebaut und steht heute halb leer. Die beiden "Socios" haben beschlossen, trotz unterschiedlicher Werdegänge gemeinsam ins kalte Wasser zu springen. Ana, knapp 40 und voller Energie, war eine der Letzten, die ihre Werbeagentur verlassen hat, bevor sie endgültig dicht machte. Alejandro ist erst 27. Es ist seine zweite „Coop“.
Er wollte immer schon sein eigener Chef sein. Nun ist er da so hineingestolpert. Aber als es darum ging, ernst zu machen, war die Wahl des Geschäftsmodells von vorn herein klar: es sollte eine Genossenschaft sein. Aber nicht aus Idealismus, erklärt Ana: „Es war eine pragmatische Wahl. Wir hatten ein gemeinsames Projekt. Und die Form der Genossenschaft entspricht unseren wirtschaftlichen und menschlichen Zielen am meisten." Und es funktioniert. Das Auftragsbuch von Marketing Online füllt sich mehr und mehr. Ihr Kundenstock ist weit gestreut: von der Psychologiepraxis bis zur Konservenfabrik.
Kautschukvaginas und Pferdetherapie
Laura Castro und Salomé Gomez, Sachbearbeiterinnen beim Fachverband der Genossenschaften in Sevilla (FAECTA), begleiten immer mehr Projekte wie jenes von Ana und Alejandro. Sie können bezeugen, dass sich das Profil der solidarischen Unternehmer mit der Krise weiterentwickelt hat. „Wir sehen mehr und mehr Serviceunternehmen, die von jungen, sehr gut ausgebildeten Absolventen gegründet werden." In einer Region, in der die Arbeitslosenrate bei über 30% liegt, scheint die Genossenschaft eine Alternative zum Auswandern zu sein. „Selbst Unternehmer zu werden, ist eine Notwendigkeit geworden", meinen die Beiden.
Andalusien ist heute die Vorzeigeregion für dieses Geschäftsmodell. Die 3500 Genossenschaften beschäftigen mehrere zehntausend Menschen - überwiegend Frauen. Salomé Gomez meint dazu: „Das kommt daher, weil diese Strukturen auf Gleichberechtigung basieren. Das Prinzip ist einfach und unveränderbar: eine Person = eine Stimme. In einer Gesellschaft, in der Frauen immer noch einen Großteil des Haushalts führen, bietet die Arbeit im Genossenschaftsmodell die Möglichkeit Familien- und Berufsleben besser zu vereinbaren." Tatsache ist, dass es den andalusischen "Socios" nicht an Fantasie fehlt. Salomé und Laura haben, bei den von der FAECTA unterstützten Unternehmen, schon so einiges gesehen: Pferdetherapie, Kautschukvaginas und Särge.
Der Hauch von Wahnsinn
Mayte verzichtet seit gut drei Jahren auf ihr Privatleben. Die Mitbegründerin der Buchhandlung La Extravagante versprüht die Energie jener Menschen, die die Welt erobern wollen. Auch wenn man in ihren Augen die Spuren unzähliger Stunden an Buchhaltung deutlich sehen kann. „Die Leute glauben, dass eine Buchhändlerin nur dasitzt und liest. Das stimmt so nicht", sagt sie lachend. In ihrem früheren Leben war Mayte Literaturprofessorin in Puerto Rico, PR-Leiterin in einem Theater, und zuletzt Buchhändlerin bei der FNAC. Diesen Job hat sie dann an den Nagel gehängt, um gemeinsam mit drei Freunden ihre eigene Buchhandlung zu eröffnen.
Die von Energie nur so sprühende Mayte, stürzte sich voller Träume und Hirngespinste ins Genossenschaftsabenteuer. Diese Wahl hat sie bis heute nicht bereut und steht zum Hauch von Wahnsinn des Projekts. „Ich hatte unglaublich viele Illusionen: alles schien einfach und machbar. Aber genau weil wir uns alle mit der gleichen Unwissenheit in unser Projekt gestürzt haben, hat es funktioniert. Als ich den ersten Termin beim Firmengründerbüro hatte, wusste ich gar nicht, dass ich eine Genossenschaft gründen konnte. Ich wusste eigentlich gar nichts. Der Anfang war sehr schwer. Ich habe zwar Unternehmergeist, aber Zahlen sind doch nicht so mein Ding!"
Alejandro und Ana haben den gleichen Funken von Verrücktheit, der sie zum Sprung ins kalte Wasser getrieben hat. Aber vielleicht sind es genau diese harmlosen Verrückten, die die andalusische Wirtschaft nach und nach wieder auf die Beine bringen werden. Die Zahlen der FAECTA beweisen, dass die Genossenschaften krisenfester sind, als klassische Unternehmen. Die „Socios“ hängen ganz besonders an ihren Projekten. Aufgeben ist dabei das Letzte, woran die Firmengründer denken. Diese solidarische Dimension hat in Krisenzeiten, in denen es praktisch unmöglich ist alleine zu überleben, seinen Sinn. Allein schon aus finanzieller Sicht. Die Kehrseite der Medaille: Viele machen für mageres Einkommen unendlich viele Überstunden. Es bleibt das Wesentliche: das tolle Gefühl geteilter Freiheit.
DIESER ARTIKEL IST TEIL EINER SPEZIALAUSGABE ÜBER DIE STADT SEVILLA, Das IM RAHMEN DES PROJEKTS « EU-TOPIA TIME TO VOTE » DURCHGEFÜHRT WIRD. EINE INITIATIVE VON CAFÉBABEL IN ZUSAMMENARBEIT MIT DER HIPPOCRÈNE-STIFTUNG, DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION UND DEM FRANZÖSISCHEN AUSSENMINISTERIUM. Bald findet ihr alle Artikel aus Sevilla auf der ersten Seite unseres Magazins.
Translated from Séville : face à la crise, les jeunes brandissent la « Coop »