Jorge Semprún: Gedenken an das KZ Buchenwald, 65 Jahre später
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Sophie BeeseDas Europa von gestern und heute, lautet der Untertitel des letzten Essays von Jorge SemprúnEin Grab in den Wolken, den er am 28. März auf der Pariser Buchmesse vorstellte. Es ist zugleich die Lebensgeschichte des ehemaligen Buchenwald-Häftlings, Politikers und erfolgreichen spanischen Schriftstellers. Am 11.
April 2010, 65 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers, zwingen Semprúns Memoiren die Europäer von heute, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Keine Bitterkeit, weder im lachenden und manchmal nachdenklichen Gesicht des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún, noch in seinen Schriften. Bei allen seinen Vorträgen „zwischen 1986 und 2005“ vor einem „jungen, neugierigen und fordernden“ Publikum, die sich nun gesammelt in Ein Grab in den Wolken wiederfinden, nutzt der Spanier seinen Beruf, um die unsagbaren Schrecken der europäischen Vergangenheit aufleben zu lassen, aber auch um die Zukunft der jungen Europäer zu prägen.
Es war der 11. April 1945, an dem der damals 22-jährige kommunistische Widerstandskämpfer zusammen mit anderen Gefangenen zu den Waffen griff, um kurz darauf zu erleben, wie sich die Tore der Hölle endlich öffneten. An die „Ironie der Geschichte“ erinnert sich der spanische Schriftsteller, der am 28. März von der Fondation France-Israel, einer französisch-israelischen Stiftung, auf die Pariser Buchmesse eingeladen wurde: „Nachdem die amerikanischen Soldaten, die die in Buchenwald stationierten Truppen besiegt und auseinandergetrieben hatten, siegreich nach Weimar weiterzogen und erst am 16. April zum Konzentrationslager zurückgekehrt waren, haben zwei von ihnen alleine das Lager betreten. Egon W. Fleck und Edward A. Tenenbaum, zwei amerikanische Juden! Die Befreier des Konzentrationslagers Buchenwald waren jüdische Amerikaner mit deutschen Wurzeln!“ Doch die Geschichte des Lagers Buchenwald, auf einem etwa acht Kilometer von der Goethestadt Weimar entfernten Hügel gelegen, endet nicht mit dem Untergang des Naziregimes.
Buchenwald - nationalsozialistisches und später sowjetisches Lager
„Im Juni 1945 schließlich verließen auch die letzten Gefangenen das Lager in Buchenwald“, scheint der Schriftsteller vor seinem Pariser Publikum abzuschließen. Doch im Anschluss erinnert er daran, dass ab August 1945 die Sowjetarmee das Lager wiedereröffnete, um dort ehemalige Nazis, aber auch Widerständler jeder Couleur gegen das Sowjetregime zu internieren. Nach offiziellen sowjetischen Angaben wurden in Buchenwald 28.455 Personen festgehalten. Bald in 'Speziallager Nummer 2' umbenannt, wurde Buchenwald bis Januar 1950 von den sowjetischen Besatzern genutzt. Die Bedingungen in dem Lager, wo Hunger und Kälte herrschten, kosteten in dieser Zeit insgesamt 7113 Menschen das Leben.
Bis zum Zerfall des Sowjetregimes war die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, welche von der DDR-Regierung ins Leben gerufen wurde, nur den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet. Schlimmer noch: Außer den Krematorien, dem Eingangsgebäude und dem Ost- bzw. Westturm wurde das restliche Lager auf Regierungsbeschluss abgerissen. Stattdessen wurde ein Wald angelegt, welcher die Massengräber mit den Opfern des 'Speziallagers Nummer 2' kaschieren sollte. Heute nun können junge Europäer gleich neben dem Wald, in dem Goethe so gerne spazieren ging, in Begleitung von Reiseführern die Doppel-Existenz des Lagers zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus nachvollziehen.
Deutschland als Zentrum des Bösen?
Der heute 86-jährige Jorge Semprún hat zwei Jahre seines Lebens „ohne Gesicht“ im KZ Buchenwald verbracht, während sein Körper „abgemagert aber lebendig“ blieb (aus seinem Buch Schreiben oder Leben; A.d.R.). Anstatt aber den Finger bis in alle Ewigkeit auf die Deutschen zu richten, denkt er weitläufiger.
Der Tod ist ein Meister der Menschheit.
„Dann steigt ihr als Rauch in die Luft/ dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng (….) Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, schrieb der rumänische Dichter Paul Celan in seinem Gedicht Todesfuge. „Aber dann [während seiner ersten Rückkehr nach Buchenwald im März 1992, A.d.R.] habe ich mich gefragt, ob diese Zeilen einer unantastbaren Wahrheit entsprechen“, schilderte der spanische Schriftsteller und Drehbuchautor beim Empfang des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1995. „Die Antwort ist eindeutig nein.“ Wieso? „Für die französischen Juden, die vom Vichy-Regime verfolgt wurden, war der Tod „ein Meister aus Frankreich“. Und Varlam Chalamov (…) hat den Tod als „Meister aus dem sowjetischen Russland“ erlebt“, erläutert Jorge Semprún während eines Vortrages 1995 in Weimar. Der Tod sei ein Meister der Menschheit. Diese Worte, die er den deutschen Zuhörern bei Vorträgen zwischen 1986 und 2005 so oft gesagt, und nun gegenüber den neugierigen Zuhörern auf der Pariser Buchmesse 2010 wiederholt hat, rufen zur Versöhnung zwischen dem Europa von gestern und heute auf.
Die Pflicht des Erinnerns
Diese Worte erinnern auch daran, wie nah das unsagbar Böse und der Humanismus beieinander liegen, verkörpert durch Buchenwald und sein „Gegenstück“ Weimar, Zentrum der deutschen Kultur, welches nur acht Kilometer entfernt liegt. 65 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers durch zwei deutschstämmige Juden bleibt Buchenwald „das Zentrum des europäischen Gedenkens“: Das deutsche Volk ist das einzige, dass den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus, Rechnung tragen kann und muss.“
Die Deutschen seien jedoch nicht allein betroffen: „Die Schwierigkeiten der Deutschen mit ihrer Geschichte betreffen alle Europäer auf das dringlichste“, so Semprún 1995. Seit 1992 bietet die Gedenkstätte Buchenwald neben Schulungen auch Weiterbildungen an, die sich hauptsächlich auf die Geschehnisse des nationalsozialistischen Lagers beziehen, aber auch davon handeln „wie Buchenwald von der DDR bis heute wahrgenommen wird“. So wird nicht nur die Geschichte selbst behandelt, sondern auch die Art und Weise, wie Geschichte geschrieben wird. Damit wird aus der Pflicht der Erinnerung kein erzwungenes Ritual ohne Dialog, wie es zu Zeiten des Sowjetregimes der Fall war. Heute blickt Europa anderen Bedrohungen als totalitären Systemen entgegen. Vielmehr geht es in der Union darum, die Unterschiede innerhalb der Gemeinschaft zu akzeptieren. Doch Europa sollte trotz alledem wachsam bleiben, so der dreisprachige Spanier, der sich selbst als vaterlandslos bezeichnet. Der Schriftsteller schließt seine Lesung mit einem Ausspruch des Philosophen Husserl einer Vortragsreihe 1935 in Wien: „Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit“.
Fotos: ©Ardean R. Miller/Gedenkstätte Buchenwald; Jorge Semprun ©Emmanuel Haddad; ©Gérard RaphaëlAlgoet/Gedenkstätte Buchenwald; ©Claus Bach/Gedenkstätte Buchenwald; ©kaswenden/flickr
Translated from Jorge Semprún: Buchenwald, 65 ans après