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John Bird: "Ich weiß was es heißt, diskriminiert zu werden, zu trinken, im Knast zu sitzen."

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Barbara Canton

BrunchKultur

Anlässlich des 17. Jahrestages des britischen Obdachlosenmagazins The Big Issue im September dieses Jahres spricht der Mitbegründer und soziale Unternehmer, John Bird, über seine rassistische irische Erziehung in London, über Kriminalität, Paris im Jahr 1968 und Armut in Großbritannien.

“Die meisten Journalisten mag ich nicht“, grummelt John Bird, 62, der gerade eine Redaktionssitzung in Ponti‘s Café oberhalb von Bahnsteig 17 im Londoner Bahnhof Liverpool Street abgehalten hat. “Sie denken nicht analytisch. Ich will nicht mehr hören, wie viele Menschen im Knast sterben. Keine Artikel mehr darüber, was George Bush für ein Arschloch ist. Wir brauchen Leute, die Probleme und ihre Lösung finden, nicht solche, die Missstände aufdecken und sich dann gleich dem nächsten zuwenden. Enthüllungsjournalisten wie John Pilger vom Daily Mirror, das habe ich ihm auch gesagt, sind nicht sozial verankert, sondern stehen über allen.“

Paris, je t’aime

Darf ich vorstellen: der Gründer von The Big Issue, einer wöchentlichen Obdachlosenzeitung für Unterhaltung und Nachrichten, einem “sozialen Unternehmen“. Es wird von Berufsjournalisten geschrieben und in fünf lokalen Ausgaben von Obdachlosen vertrieben. Die Vertreter kaufen der Big Issue Stiftung (die Obdachlosenprogramme finanziert) das Magazin für 70 Pence (0,89€, A.d.R.) pro Stück ab, verkaufen es auf der Straße für 1,50 Pfund (1,91€, A.d.R.) und machen so einen Gewinn von 80 Pence (1,02€, A.d.R.). “Ich bin kein besonders guter Herausgeber“, gesteht Bird bei seinem zweiten “Eimer Tee“, während unter uns Anzugträger aneinander vorbei sausen und Züge rumpelnd in den Bahnhof einfahren. “Beim Schreiben kann man seine Gedanken schärfen und so. Wenn man ein guter Dirigent ist, heißt das nicht, dass man auch ein guter Geiger ist. Aber ich will lieber selber spielen.“

©Nabeelah Shabbir

Rührselig höre ich zu, wenn Bird von Rassismus, Armut und seiner Zeit im Gefängnis berichtet, die sein Schreiben beeinflusst haben. Er kennt die Obdachlosen. Gehen wir 41 Jahre zurück in die Zeit, in der Bird einige Monate lang auf den Champs-Elysées die International Herald Tribune verkaufte. Er war zum ersten Mal im Ausland. Mit einem vom Postamt ausgestellten einjährigen Reisepass versteckte er sich vor der Polizei. Damals lebte er in derselben Straße, in der ich heute wohne. “Ich schwöre bei meinem Leben“, mit einem Kollegen, Leanelle, einem einbeinigen Goanesen aus Indien, “der ungefähr deine Hautfarbe hatte“.

“Die meisten Menschen, die so etwas wie eine politische Meinung haben, labern doch nur den Scheiß nach, den irgendjemand anderes gesagt hat."

Eine seltsame Bemerkung für jemanden, der zu dieser Zeit ein “weißer Rassist der Arbeiterklasse“ war? “Die meisten Menschen, die so etwas wie eine politische Meinung haben, labern doch nur den Scheiß nach, den irgendjemand anderes gesagt hat.“ Birds katholische Mutter zog mit 18 Jahren von Cork nach London, wo sie in einem Pub gearbeitet hatte, bevor sie ihren protestantischen Ehemann traf. “Sie hat mir schon von klein auf erzählt, dass die Inder-Juden-Reichen-Schwarzen-Faulpelze das Land zerstören. Ich habe das geistige Gift der Armut mit der Muttermilch aufgesaugt, immer jemand anderem die Schuld zu geben. Man muss Araber oder Franzosen finden, auf die man es schieben kann.“

The Big Issue erobert Europa

Vom Fremdenhasser über den 68er bis zum Verleger: Mit 29 Jahren hatte Bird bereits sein erstes Kunstmagazin veröffentlicht. 1991 engagierte ihn der Unternehmer Gordon Roddich als Leiter von The Big Issue, gestaltet nach dem Vorbild der weltweit ersten Obdachlosenzeitung, der Street News in New York, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren herausgegeben wurde. 2003 warf The Big Issue einen Gewinn von einer Million Pfund (rund 1.269.000€, A.d.R.) ab, öffnete sich dann zunehmend für Anzeigenkunden und brachte es im Jahr 2007 schließlich auf über vier Millionen Pfund (rund 5.077.000€, A.d.R.). 1995 förderte The Big Issue das Internationale Netzwerk für Straßenzeitungen (INSP). 30.000 Pfund (38.000€, A.d.R.) später gehörten ihm sechzig nationale Ableger in 20 europäischen Ländern an, darunter das gescheiterte spanische Blatt La Farola, gegründet von einem französischen obdachlosen Verkäufer, und das ebenso kurzlebige belgisch-französische Macadam Journal, das ein belgischer Geschäftsmann ins Leben gerufen hatte. Von letzterem berichtet Bird, es sei “von irgendwelchen Rechten übernommen worden. Wir haben nur den französischen und deutschen Zeitungen unseren Stil verpasst. In Europa haben wir echte Probleme“, sagt er in Anbetracht der Tatsache, dass die Zeitung in Ländern wie Australien und Namibia sogar den Namen beibehalten hat. “Viele Probleme haben mit Konkurrenzdenken zu tun. Man bekommt einfach niemanden dazu zusammenzuarbeiten, beispielsweise in Deutschland, wo es 30 verschiedene Straßenzeitungen in den verschiedenen Städten gibt. Die halten sich alle für einzigartig.“

©INSP

In Großbritannien sei die Armut staatlich gefördert, meint Bird. “Diese schwarzen Jugendlichen, die herumlaufen und sich gegenseitig umbringen, beziehen praktisch alle Sozialhilfe. Sie werden durch die staatliche Unterstützung in ihrer Armut gefangen gehalten. So entstehen keine Hoffnung, keine Gerechtigkeit und keine Zukunftsperspektive. Finanzielle Unterstützung versaut die Erziehung.“ Das Wort ‘abgehoben‘ taucht immer wieder auf. “Abgehoben zu sein bedeutet, keinen Bezug zur Realität zu haben, in einer Welt zu leben, die sich der Wirklichkeit nicht anpasst“, erklärt er. “Die neue Regierung hat mit ‘Experten‘ gesprochen, den Obdachlosen selbst, Hilfsorganisationen, aber sie hat tausende von zerstörten Leben zurückgelassen.“

“Wer spät lernt, lernt bewusster.“

©Phil Dowsing/ FlickrBird sagt, Jugendliche wüssten, dass er authentisch sei. “In Großbritannien gibt es nur eine Handvoll Leute wie mich. Abgesehen davon, dass ich aus ärmlichen Verhältnissen komme, habe ich alles Erdenkliche in diesem Leben falsch gemacht und überlebt. Ich weiß was es heißt, diskriminiert zu werden, zu trinken, im Knast zu sitzen, zu versuchen, Leute mit einer Knarre umzulegen. Ich hatte eine Zukunft, anders als meine Brüder, die entweder durch Alkohol und Drogen gestorben sind oder in grauenvollen Hochhaussiedlungen am Stadtrand wohnen und einen Hass auf Schwarze, Juden und Inder hegen. Diese Dreckskerle. Ich habe Neffen und Nichten, mit denen ich mit einem fremden Akzent sprechen würde, wenn sie anriefen, damit sie nicht wüssten, wer ich bin.“

Dass er mit 16 Jahren im Gefängnis lesen und schreiben gelernt hat, sei für ihn “die größte Chance auf einen sozialen Aufstieg“ gewesen, so Bird, auch wenn ihm das heute keiner mehr abnehme. “Wenn man spät lernt, lernt man bewusster, genau wie man ganz bewusst die Macht besitzt, sich dafür zu entscheiden, kein Rassist mehr zu sein.“ Bird hat in diesen beiden Punkten wirklich eine Kehrtwende vollzogen. Nachdem er im Frühjahr 2008 als Parteiloser für das Amt des Bürgermeisters kandidiert hat, schreibt er nun ein Buch über den Stadtteil Notting Hill im Westen Londons, seinem Geburtsort, den er vor allem für seine “bittere Armut und das beschissene rechtsradikale Denken“ in Erinnerung hat. Seine Frau hat indische Wurzeln, und seine beiden Kinder im Alter von drei Jahren und 17 Monaten tragen Namen aus der religiösen Gemeinschaft der Sikhs. “Ich habe gelernt, ein Teil der Lösung zu sein, nicht des Problems. Meine Kinder sind das Ergebnis dieser Lösung.“

Translated from John Bird: ‘I know what it's like to be prejudiced, drunk, imprisoned’