Participate Translate Blank profile picture
Image for Jetzt bin ich also Deutsch: Erika Mustermann und die Wappentiere

Jetzt bin ich also Deutsch: Erika Mustermann und die Wappentiere

Published on

ExperienceBerlinEinwanderung

Warum entscheiden sich Menschen anderer Nationen für die deutsche Staatsbürgerschaft und wie fühlen sie sich mit der neuen Nationalität?

Karolina Golimowska und Daniel Tkatch berichten von ihren Erfahrungen.

In diesem Text bin ich K. Nicht zu verwechseln mit Frau K., die auch eine wichtige Rolle im hier beschriebenen Verfahren spielt. Genauso wichtig sind der Bundesadler und der Berliner Bär – neben Frau K. und Frau B. die anderen beiden Gesichter des deutschen Staates. Und die Frage, warum beide Tiere ihre Zungen rausstrecken.

Ich komme aus Warschau und mein Nachname klingt polnisch. Nicht deutsch oder französisch oder was weiß ich. Einfach nur polnisch. Für die, die sich nicht auskennen, irgendwie slawisch oder eben osteuropäisch.

Polen bedeutet für mich Familie, Hering mit Sahne und warmen Kartoffeln. Polen ist meine Sprache. Polen ist das Land, in dem ich nicht mehr lebe. Und das schon seit neun Jahren. Mein ganzes Erwachsenenleben spielt woanders, hauptsächlich in Deutschland.

Berlin-Warszawa-Express

Deutschland ist für mich vor allem Berlin. Hier habe ich studiert, von hier aus habe ich ein Stipendium nach London bekommen, hierhin kam ich zurück. Hier arbeite ich an meiner Promotion, hier sind meine Freunde, hier ist mein Leben. Berlin bedeutet Stuck an den Decken, große Parks, Frauen mit unrasierten Waden.

Berlin ist Straßendemos und Flohmärkte, Ost-West-Kontraste, Sonntagsbrunchs und Weißweinschorle. Berlin ist Fahrrad, mein erster Job, mein erstes Geld, meine erste Mietwohnung. Berlin bedeutet auch die ersten Diskriminierungserfahrungen und kritischen Blicke auf Polen von außen. Berlin ist tolle Bäckereien und riesige Joghurtauswahl in den Supermärkten.

Berlin und Warschau verbindet ein Zug - der Berlin-Warszawa-Express. Er fährt zwischen meiner Kindheit und dem Erwachsensein hin und her, drei Mal am Tag, sieben Tage die Woche.

Polen haben in Berlin keinen besonders guten Ruf. Vielleicht ist die Grenze zu nah und das Pendeln von Bauarbeitern und Putzfrauen zu verbreitet. Grenzgebiete können zu Problemzonen werden, zu Niemandsländern: links und rechts nichts, 60 Kilometer weit.

Viele meiner Berliner Freunde waren noch nie in Polen. Sie assoziieren das Land mit dem Zweiten Weltkrieg und einem ganzem Arsenal heikler Themen, die man als Deutscher lieber nicht anspricht. Manche waren nur mal kurz über die Grenze auf dem „Polenmarkt“ – da musste ich mir erstmal erklären lassen, was das ist. Dort, sagt Alexander, kann man unter anderem alle möglichen (Neo)-Nazi Devotionalien kaufen. In Deutschland streng verboten, dort, ein paar hundert Meter weiter, auf ausklappbaren Tapeziertischen aufgereiht. T-Shirts, Stahlhelme, CDs, Mein Kampf.

Die, die keine eigenen Erfahrungen mit Polen haben, sind vorsichtshalber meistens skeptisch. Es gibt in Berlin die coolen und die uncoolen Ausländer. Zu den coolen gehören Franzosen, deren Deutsch so süß klingt. Cool sind auch Spanier, Engländer, Italiener; man kennt Pizza, Tapas, Fish & Chips und die Sprachen lernt man gerne, weil sie so schön sind. Englisch will eh jeder sprechen können, das kann man mit Engländern gut üben. Und die Queen kennt man auch. Und James Bond natürlich. Was kennt man schon aus Polen? Die meisten meiner Berliner Freunde kennen nicht einen einzigen polnischen Schriftsteller, von Filmtiteln oder heldenhaften Agenten gar nicht zu sprechen. Ja, die gibt es! Der vielleicht bekannteste heißt Hans Kloss und ist ein charmanter, von Generationen geliebter Kult-Doppelagent.

US-Amerikaner sind grundsätzlich auch cool. Polen ist eher uncool. Man muss sich viel rechtfertigen. Und manche Sachen sind einfach nicht möglich.

Wählen darf ich nicht, obwohl ich hier wohne und Steuern zahle; aber das dürfen andere Nicht-Deutsche auch nicht. Auf ein Fulbright-Stipendium bei der zuständigen deutschen Kommission darf ich mich als Polin nicht bewerben, weil ich keine Deutsche bin. Ich kann auch nicht verbeamtet werden. Bei 'Robben und Wientjes' durfte ich einmal kein Umzugsauto mieten mit meinem polnischen Führerschein, offiziell „wegen der Versicherung“, inoffiziell, weil es ja sein könnte, ich klaue das Auto und haue damit ab nach Polen, in das Land der Autoklauer.

Grenzen, die ich nicht ändern kann

Als ich nach einer Wohnung suche, höre ich am Telefon einen Makler sagen: „Die Hausverwaltung möchte keine Ausländer mehr in diesem Haus.“ Beim Arbeitsamt höre ich 2008, dass es „doch gut ist, dass Polen eine Arbeitserlaubnis in Deutschland brauchen, sonst wäre das Land voll von Obdachlosen und Prostituierten“. Das sind Momente, in denen ich mich machtlos und hilflos fühle. Ich erreiche die Grenzen meiner Möglichkeiten. Ich kann machen, was ich will - manches bleibt außen vor. Ich stoße auf rechtliche und gesellschaftliche Grenzen, die ich nicht ändern oder beeinflussen kann; ich bleibe stehen, statt voran zu kommen. Also: Was tun?

Nach langem Hin und Her und vielen Gesprächen mit Freunden, der Familie und den Ämtern beantrage ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich kann als EU-Bürgerin die polnische weiterhin behalten und werde zu einem „Mehrstaatler“. Wie wird sich das anfühlen? Ich bleibe nach wie vor Enkelin eines Siemens-Zwangsarbeiters und einer Sanitäterin des Warschauer Aufstands. Ich bleibe auch die Urenkelin eines Schulleiters, der Dachau, Oranienburg und Sachsenhausen überlebt und all die Jahre, die er in KZs verbrachte, Briefe an seine geliebte Frau geschrieben hat. Auf Deutsch, das er lernen musste. Auf vorgedruckten Formularen, auf die er Briefmarken mit dem Gesicht Hitlers klebte, und dann auf Antwort hoffte. Leider, oder auch zum Glück, kann ich mit ihnen über meine Entscheidung nicht mehr sprechen. Ich habe nur die Briefe.

Zum Prozess der Einbürgerung gehört ein Test, durch den „Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland“ nachgewiesen werden sollen. Ich muss sechs Wochen auf einen freien Termin warten, dann sitze ich in der VHS Neukölln. Wir sind zu zehnt. Eine Mitarbeiterin der Volkshochschule gibt uns eine Einführung. Sie spricht sehr langsam und sehr laut. Sie schielt stark; man weiß nie genau, wo sie hinguckt. Dann bekommen wir die Bögen mit 33 Fragen und fangen an. Was für eine Staatsform hat Deutschland? A) Monarchie, B) Diktatur, C) Republik, D) Fürstentum? Wenn man in Deutschland ein bestimmtes Alter erreicht und aufhört zu arbeiten, was bekommt man meistens? A) Rente, B) Gehalt, C) gar nichts oder D) Ausbildungsgeld? Was bedeutet die Abkürzung CDU in Deutschland? Club deutscher Unternehmer? Was wollte Willy Brandt mit seinem Kniefall 1970 im ehemaligen jüdischen Ghetto in Warschau ausdrücken?

Einbürgerungstest: Wovor haben wir Angst?

Interessant: Bei Fragen, in denen es um das Fremde, das Andere geht, basieren die falschen Antworten, die zur Auswahl stehen, meist auf Vorurteilen. „Ein Mann mit dunkler Hautfarbe bewirbt sich auf eine Stelle als Kellner in einem Restaurant in Deutschland. Was ist ein Beispiel für Diskriminierung? Er bekommt die Stelle nur deshalb nicht, weil A) seine Deutschkenntnisse zu gering sind, B) er zu hohe Gehaltsvorstellungen hat, C) er eine dunkle Haut hat, D) er keine Erfahrungen im Beruf hat.“ Da der deutsche Einbürgerungstest in der Zeit eingeführt wurde, als ich schon in Deutschland lebte, kann ich mich an die lauten Diskussionen in den Medien erinnern, und schon damals schien es mir, dass der Test vor allem eine Pseudolösung für Probleme ist, die die deutsche Gesellschaft mit der Zuwanderung hat, die allerdings noch nicht direkt und offen diskutiert werden können – und so kommt es zu einer Verschiebung der Problematik.

Manchmal denke ich fast, dass der Zwecke dieses aus 310 Fragen bestehenden Katalogs ist, die wenigen eigentlichen Fragen zu verdecken, mit denen die Deutschen sich selbst beschäftigen sollten. Wie stellen wir uns Deutschland vor, in dem immer mehr Menschen leben, die anders sind, als wir? Wovor haben wir Angst? Welche interkulturellen Intoleranzen können wir wegen unserer Vergangenheit nicht offen anerkennen? Sind alle unsere interkulturellen Intoleranzen eigentlich so schlimm, dass wir nicht offen über sie reden können? Wir Zuwanderer können diese Fragen für euch nicht beantworten, und jene Fragen, die ihr uns im Einbürgerungstest stellt, sind meiner Meinung nach nebensächlich, Sie offenbaren unvergleichbar mehr über euch, als unsere Antworten es über uns tun können.    

Ich gebe meinen Test ab und verlasse den Raum als erste. Beim Rausgehen frage ich mich, warum sich der Mann mit dunkler Hautfarbe in einem Restaurant bewirbt und nicht beispielsweise bei einer Unternehmensberatung.

Nach drei Wochen bekomme ich das Ergebnis. 33 Punkte von 33.

Zwei neue Tiere in der Tasche

Vier Monate später kriege ich einen Brief von Frau K. von der Einbürgerungsbehörde. Sie schreibt, dass sie sich freut und mir gratuliert und dass ich mich telefonisch melden soll zwecks Terminvereinbarung. Eine Woche später hole ich bei ihr ein Papier im A4-Format ab, auf dem steht, dass ich bereits seit einer Woche deutsche Staatsbürgerin bin.

Den grünen Zettel mit dem nach links schauenden Bundesadler überreicht mir Frau K. in einer weißen Mappe mit einem auch nach links guckenden Berliner Bären. Beide zeigen ihre Zunge. Seltsam, denke ich. Ich muss noch unterschreiben, dass ich verstehe, was es bedeutet, dass ich ab jetzt eine doppelte Staatsbürgerschaft besitze. Und das kann, habe ich gelernt, je nachdem, wo ich mich befinde, ganz verschiedene Sachen bedeuten. In Polen bin ich Polin, in Deutschland bin ich in erster Linie Deutsche. Ich sollte also nie Hilfe bei der deutschen Botschaft in Warschau suchen, denn sie werden mir nicht helfen können. In allen anderen Ländern, sagt Frau K., bin ich beides und kann mir aussuchen, mit welchen Dokumenten ich mich ausweise.

Später zu Hause google ich „Bundesadler + Zunge“ und lese, dass Tiere in Wappen immer wehrhaft dargestellt werden, sie sollen so wirken, als könnten sie sich gut verteidigen. „Der Adler etwa scheint einen Schrei auszustoßen, der anderen Angst einjagen soll.“ Am nächsten Morgen gehe ich mit meinen zwei neuen Tieren in der Tasche einen deutschen Ausweis und Reisepass beantragen. Meine Sachbearbeiterin, Frau B., hat noch nie eine Einbürgerungsurkunde gesehen, sagt sie. Sie macht sich eine Kopie und lächelt. Dann holt sie einen Kollegen, der ihr hilft, irgendwas auf ihrem Rechner auszufüllen. Der Kollege ist deutlich älter als sie und deutlich unzufrieden, dass er helfen muss. „Wärst du nicht so lange weg gewesen, würdest du das wissen, Frau B.“, sagt er. Sie beißt die Zähne zusammen. Als er weg ist, sagt sie zu mir: „Sollten sie mal ein Kind kriegen, machen sie bloß keine zu lange Babypause!“, und dann: „Ist ja nicht so oft, dass jemand hier mit so einem Zettel aufkreuzt“.  Ich nicke verständnisvoll.

Idee und Bedeutung einer Staatsbürgerschaft bleiben abstrakt für mich. Ich weiß, dass ich mit einer doppelten Staatsbürgerschaft nicht mehr in ganz so viele Lücken fallen werde. Ich werde in Berlin nicht mehr wegen meines Ausweises diskriminiert werden. Am Abend erzähle ich meinem Vater am Telefon, wie alles gelaufen ist. Er fragt mich überrascht: „Wie: Frau K.? In Polen ist es der Staatspräsident, der die Einbürgerungsurkunden feierlich an die Neu-Polen übergibt“. Es war tatsächlich alles andere als spektakulär, aber das sagt vermutlich etwas aus über die unterschiedliche Anzahl der Einbürgerungsverfahren in beiden Ländern.

Ich habe vorsichtshalber noch nicht so vielen Leuten von meiner neuen Identität erzählt. Lena meinte, wir sollten feiern. Sarah hat mir gratuliert. Daniel sagte, auf dem Foto in meinem deutschen Ausweis sähe ich aus wie Erika Mustermann.

Der zuerst in dem Magazin „The Germans“ (Heft 05/2013)  veröffentlichte zweiteilige Artikel „Jetzt bin ich also Deutsch“ von Daniel Tkatch und Karolina Golimowska wurde im Mai 2014 mit dem Deutsch-Polnischen Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreis in Kategorie Print ausgezeichnet.

Hier geht es weiter zu Daniels Teil: „Jetzt bin ich also Deutsch: Die innere Einbürgerungsreise eines Israelis“