Jeder braucht gute Nachbarn
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birgit ulrichMoskau pflegte schon immer ein etwas angespanntes Verhältnis zu den baltischen Staaten. Durch die EU-Osterweiterung wird sich Russland noch weiter von seinen nächsten Nachbarn entfernen.
Der Wahlausgang war vorhersehbar und somit steht zu mindest eine Sache fest: Egal wie die Wahlergebnisse im Einzelnen ausfallen, Mutter Russlands Beziehungen zu ihren unmittelbaren Nachbarn im Westen werden in Kürze eine neue Phase erreichen. Lettland, Litauen und Estland werden am 1. Mai diesen Jahres der Europäischen Union beitreten. Die drei kleinen baltischen Staaten haben schon immer die Aufmerksamkeit ihres immensen Nachbarn auf sich gezogen – sei es in militärischer, wirtschaftlicher oder ethnischer Hinsicht. Mit der Ankunft Putins in Moskau im Amt des Machthabers jedoch schaltete Russland, Dank der außenpolitischen Zielsetzungen des Kremls, in seinen Beziehungen zu den drei Staaten – im Besonderen zu Lettland und Estland – einen Gang höher.
Instrumentalisierung der Minderheit
Russland scheute niemals davor zurück, die ethnische Karte auszuspielen. So lange es Menschen in den baltischen Staaten gibt, die Russland eine neo-imperialistische Haltung vorwerfen, hält Russland mit Anschuldigungen über unverhohlene Verletzung der Rechte von Minderheiten dagegen. Im Jahr 2001 rief Putin in einer Live-Sendung, die zur gleichen Zeit auf allen staatlichen Rundfunk- und Fernsehkanälen ausgestrahlt wurde, die russische und russischsprachige Bevölkerung dazu auf, die offizielle Anerkennung der russischen Sprache und eine zahlenmäßige Quote russischer Repräsentanten in allen Regierungsorganen zu verlangen: „ Ich kann euch versichern, dass wir unsere Bemühungen auf diesem Gebiet vertiefen werden.“ Dabei zögerte er nicht einen direkten Vergleich zu ziehen zwischen der Situationen im Baltikum und auf dem Balkan. Viele weitere solcher „Anspielungen“ aus den Mündern russischer Funktionäre folgten auf den Fuß. Experten zu Folge sei Putin tatsächlich das erste Staatsoberhaupt des Nachkriegseuropas, das aus seiner außenpolitischen Motivation heraus eine Minderheit von „Landsmännern“ über die Grenzen hinweg dazu aufruft, sprachlich und ethnisch begründete Forderungen zu stellen.
Jedoch konnte keine der internationalen oder regionalen Menschanrechtsorganisationen, die in den letzten Jahren in den baltischen Staaten tätig waren - entgegen den russischen Vorwürfen - Verletzungen des Minderheitenschutzes feststellen. Es scheint überaus fragwürdig, ob sich Russland ehrlich um das Schicksal der russischen Kumpane sorgt. Allerdings kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass Russlands Beziehungen zu Litauen, das seine Einwanderungsgesetze relativ lax handhabt und dessen russischer Bevölkerungsanteil gerade mal 8,6% beträgt, ruhiger sind als etwa die zu Estland und Lettland. Aber Litauen hat sein eigenes Päckchen zu tragen – den Status von Kaliningrad in einem erweiterten Europa und Russlands Drängen auf eine visumfreie Durchreise für russische Bürger.
Fenster nach Europa?
In den letzten zehn Jahren konnten die baltischen Staaten enorme Fortschritte in Bereichen der Demokratisierung und der wirtschaftlichen Entwicklung vorweisen. Über einen beachtlichen Zeitraum hinweg galt die baltische Region als das russische Fenster zu Europa. Die richtige Russlandstrategie der EU könnte dazu beitragen, das Land auf denselben Weg zu lenken wie die baltischen Länder. Der EU-Politiker Chris Patten sagte am 26. Februar: „Stabile und konstruktive Beziehungen zu Russland sind für die EU von essenzieller Bedeutung, da Russland eine wichtige Rolle in der europäischen Sicherheitsdebatte spielt. Und niemand will eine Trennung Europas durch die Erweiterung der EU sowie der NATO herbeiführen.“
Moskau aber lässt die Sache schleifen. Russland will die neuen EU-Staaten erst dann ins „Partnership and Cooperation Agreement“ (PCA) mit der EU aufnehmen, wenn die Handelsverluste, die – wie Moskau behauptet – als Folge der EU-Erweiterung zu erwarten seien, kompensiert würden. Russland ist unter ökonomischen und politischen Gesichtspunkten betrachtet der wichtigste Partner der EU. Dennoch, „eine starke, klare Nachricht wurde nach Russland geschickt“: Die EU erwarte, dass das PCA bis zum 1. Mai 2004 um die zehn neuen Mitglieder erweitert werde, und zwar ohne jegliche Vorbehalte und Einschränkungen. Brüssels neue Politik beteuert die Bereitschaft der EU, sich Russlands Besorgnisse bezüglich des Handels anzuhören - aber nur unter der Bedingung, dass Kompensationsforderungen keine Voraussetzung für eine Einigung darstellen dürften.
Feindselige Zeichen der Schwäche
Die ethnologische Frage spielte auch im Bereich der regionalen Sicherheit eine Rolle. Im Kreml glaubte man, dass man durch die Provokation von ethnischen Spannungen die führenden NATO-Staaten davon abbringen könne, die baltischen Staaten in das Militärbündnis aufzunehmen, zumal diese die NATO als einzigen in Frage kommenden Sicherheitsgaranten ansehen. Obwohl der ehemalige russische Verteidigungsminister, Sergei Ivanov, in einem Interview vom 6.März der Zeitung „Le Figaro“ sagte, „Russland stellt für niemanden eine Bedrohung dar“, bleibt der psychologische Angstfaktor bestehen. Glücklicherweise hatte Putins ablehnende Haltung gegenüber der Erweiterung des Nordatlantikbündnisses keinen Einfluss auf die Entscheidung der NATO. Tatsächlich aber führten die Gerüchte über US-amerikanische Stützpunkte, die auf baltischem Gebiet errichtet werden sollen, neue Spannungen in den russisch-amerikanischen Beziehungen. Russland drohte als Antwort auf mögliche US-amerikanische Unternehmungen „mit angemessenen Schritten zu reagieren“. Bisher wusste man eine gewalttätige Eskalation zwischen den baltischen Staaten und Russland noch zu verhindern, ein schwaches und instabiles Russland allerdings könnte zu Verzweiflungstaten neigen, wenn es mit ansehen muss, wie sich US-amerikanischen Truppen entlang der Staatsgrenzen aufbauen.
Putin schuf eine neue Regierung und so wird sich zeigen, ob seine Wiederwahl eine Veränderung mit sich bringt. Aus dem Ziel der russischen Außenpolitik heraus, die Bande mit der EU zu festigen, ergibt sich die Perspektive für die Beziehungen zwischen den baltischen Staaten und Russland: Dimitri Trenin, stellvertretender Direktor des Moskauer Carnegie Zentrums, betonte Putins Ansinnen eine Politik zu führen, die die Konfrontationen mit dem Westen vermeiden möchte. Die drei baltischen Staaten seien im Begriff „nach Europa zurückzukehren“.
Bleibt nur zu hoffen, dass sich diese Attitüde in der zukünftigen Politik Russlands weiter durchsetzt, und dass Putin die Vorzüge eines guten nachbarschaftlichen Verhältnisses zu schätzen lernt.
Translated from Everybody Needs Good Neighbours