Iren über Deutschland, Romantik und Vorurteile
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Isabelle DanielDer strenge Zeitgeist eines Irlands, das ein düsteres finanzielles Fiasko durchlebt, hat unseren Blick auf Deutschland und alle deutschen Dinge noch weiter verzerrt. Aber es hat auch mir die Türen geöffnet, meine eigenen Erfahrungen aus fast sieben Jahren in diesem Land zu reflektieren. Eine irische Sicht auf Deutschland.
Obwohl es sieben Jahre her ist, reagieren die Iren immer noch mit diesem trübseligen Gesichtsausdruck, wenn sie erfahren, dass ich in Deutschland aufgewachsen bin. Als ob sie damit die Schwere meines Satzes erleichtern könnten, fassen mich die Leute in einem Akt von wohlgesinntem Mitleid am Arm, neigen ihren Kopf mitfühlend und stellen Fragen wie: „Warum Deutschland?“, „Musstest du aus beruflichen Gründen dorthin?“, „Musst du für lange Zeit dorthin?“
Mein verwirrter Blick bleibt meistens unberücksichtigt, meine jugendlichen und sprudelnden Erfahrungen in diesem Land stoßen meist auf taube Ohren. Das Land von Bach, Beethoven und Brahms, die epische Lyrik Goethes, der Schwarzwald, die Straße der Romantik, die Ehrfurcht gebietenden Seen vor den Alpen und märchenhafte Schlösser in den majestätischen Bayerischen Alpen schienen in den irischen Augen unsichtbar. Stattdessen haben sie ein Land vor Augen, das sich durch das industrielle Ruhrgebiet, Ingenieurswesen, kalte Winter, eine fleißige, dogmatische und mürrische Mentalität, Swastikas und die SS, die „Luftwaffe“ und natürlich durch Hitler und den Krieg definiert.
Fenster der Erkenntnis
Die Geschichte hält uns gefangen und benebelt unseren Blick auf die Welt und vor allem auf Deutschland – das war schon vor der Finanzkrise, die uns vergiftet und verbittert hat, so. Ignoranz ist natürlich nicht diskriminierend und funktioniert immer in zwei Richtungen. Umgekehrt scheinen auch die Deutschen ein archaisches Bild von Irland zu haben. Es wimmelt vor den Adjektiven grün, landwirtschaftlich, musikalisch, sauber, rustikal und britisch. Deutsche Wettermoderatoren erwähnen in den seltensten Fällen Irland, sondern sprechen eher von Tiefs, die von den „Britischen Inseln“ kommen. Viele Deutsche, vor allem aus der älteren Generation, benutzen als Überbegriff ganz routiniert „die Engländer“, wenn sie die Iren (oder eben tatsächlich jemanden aus Großbritannien oder Irland) meinen, anstatt direkt von den „Iren“ zu sprechen.
Andererseits: Wie ist Deutschland, wenn – um den irischen Schriftsteller Bryan MacMahon zu zitieren, man die schweren Vorhänge des Vorurteils zur Seite zieht und das Fenster der Erkenntnis enthüllt? Dann ist Deutschland ein offener, moderner, multikultureller, respektvoller, schöner, sauberer und sicherer Ort zum Leben. Es ist warm, trockene Sommer (im Verhältnis zu Irland) sind dem Zeitvertreib im Freien förderlich, sodass Familien und Freunde in großartigen Parks, an Flussufern und Seen zusammenkommen. Eine lebhafte Café-Kultur ermöglicht es, sich die Zeit mit stundenlangem Lesen oder dem Beobachten von Passanten in der entzückenden Nachmittagssonne zu vertreiben. Eine regelrechte After-Work-Pflicht ist in Bayern der Besuch eines Biergartens: Dort macht man es sich zwischen Kastanienbäumen und Linden gemütlich, während man sich mit dem besten, kühlsten Bier der Welt versorgen lässt.
Arbeitsweisen definiert man am besten über die Maxime, mit der es die christlichen Iren auf den Punkt bringen: Es kommt nicht darauf an, wie viele Stunden man arbeitet, sondern, was man in diesen Stunden tut. In Deutschland ist es nichts Ungewöhnliches, wenn Leute schon am Freitagnachmittag in ihren Feierabend gehen. Die Löhne sind hoch, die Gewerkschaften sind immer noch stark, auch wenn sie ihre Mitglieder an kleinere Verbände verlieren. Flexible Arbeitszeiten, das Arbeiten von zu Hause aus und außergewöhnlich viel freie Zeit (30 Tage oder mehr gesetzliche Feiertage) sind viel mehr die Norm als in Irland. Dennoch legen die lächerliche Über-Bürokratie und hohe Start-up-Kosten einen leidenschaftlichen, feurigen Unternehmergeist lahm.
Verzauberte Smaragdtüren
Die Sonntags-Auszeit für Läden und die Einhaltung religiöser Festtage sind viel mehr en vogue. Zur Tradition gehören Ereignisse mit kultureller, religiöser und sprachlicher Vielfalt, auf denen man sich der unbarmherzig über alles hinwegfegenden Welle der Globalisierung entziehen kann. Trotzdem gibt es auffällige Anzeichen dafür, dass auch Deutschland nicht verschont geblieben ist. (Pseudo-)Englische Wörter sind in der Sprache allgegenwärtig: „Meeting“ wird für „Besprechung“ verwendet, „Team“ für „Mannschaft“, „Chatten“ für „Plaudern“ und so weiter. Dieses linguistische Phänomen nennt man Denglisch, eine Kombination der Wörter Deutsch und Englisch.
Während die Tatsache, irisch zu sein, nicht jede verzauberte Smaragdtür in Deutschland öffnen wird, tendieren die Bewohner dazu, die Iren über alles zu mögen. Sie haben die große Gabe, unserem permanenten Reden zuzuhören. Die unbekümmerte Attitüde der Iren gilt als bewundernswert, ihre gesellige, fröhliche Begleitung wird geschätzt, vor allem in den unzähligen Irish Pubs, die man überall im Land finden kann. Die Saat der Liebe wurde nicht selten an solchen Orten gepflanzt, vor allem zwischen irischen Jungs und deutschen Mädchen (andersherum eher selten); vielleicht ist genau der Punkt, an dem sich irische Unbekümmertheit und die deutsche Neigung zu Regeln sich treffen, ein Katalysator.
Traurigerweise habe ich selten so viele einsame Menschen in meinem Leben getroffen. Deutsche tendieren zu extremer Privatsphäre.
Traurigerweise habe ich selten so viele einsame Menschen in meinem Leben getroffen. Man sieht sie in Cafés, Restaurants, Pubs – überall. Die Deutschen tendieren zu extremer Privatsphäre. Meistens unterhalten sich nur mit denjenigen, mit denen sie gekommen sind. Einmischung ruft sofort Misstrauen hervor; man glaubt an hintergründige Motive und hat ein schlechtes Gefühl. Einmal musste ich erklären, was Small Talk bedeutet; das war eine echte Herausforderung. Neue Menschen kennenzulernen scheint mir in Deutschland unglaublich viel schwieriger zu sein. Viele Deutsche geben zu, dass sie mit dem Gedanken spielen, eines Tages auszuwandern, aber erst, sobald sie ihre Rente haben. Dass sie sich wie Fremde in ihrem eigenen Land fühlen. Wie Fremde in einem obskuren Paradies?
Dieser Artikel ist ein Beitrag des cafebabel.com Localteams in Dublin.
Illustrationen: Teaserbild (cc)gravitat-OFF; Im Text (cc)akante1776/Mythos Muenchen, (cc)Sporthotel Achental/Anna, (cc)Traveller_40/ alle bei flickr
Translated from Irish reflections on Germany, romance and stereotypes