Irak - wenn der Krieg eine Lüge ist
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doris hoferMassimo Nava, bekannter Journalist beim Mailänder “Corriere della Sera”, hat ein neues Buch verfasst. Lesen Sie im exklusiven Vorabdruck auf café babel Auszüge aus “Vittime” (Opfer).
Von Georgien bis Algerien, von Ruanda bis zu den Massakern im Balkan - das neueste Buch eines der bekanntesten italienischen Journalisten, Massimo Nava, ist „eine Reise nicht nur in das Grauen der Kriege, die in den letzten Jahrzehnten die Welt verwüstet haben (...), sondern auch eine Reise unter die dick gepolsterte Decke aus Falschheit und Irrealität, die die Wahrheit so schwer zugänglich macht“, so fasst es das Vorwort von Claudio Magris zusammen. Eine Reise zwischen Konflikten, die oft mit dem Streit um einen immer knapper werdenden Rohstoff, dem Erdöl, zusammenhängen. Im Folgenden veröffentlichen wir zwei Texte, die sich auf den Krieg beziehen, den die USA 2003 gegen den Irak führte. Ein Land, das – wie das Buch des Paris-Korrespondenten des “Corriere della Sera”erinnert - nach Saudi-Arabien die weltweit größten Erdölreserven besitzt. Und das seit Beginn der Intervention laut minimalistischen Schätzungen „zwischen fünfzehn- und siebzehntausend Zivilopfer“ zu beklagen hatte. Wie können diese Toten gerechtfertig werden?
Bagdad, 16. März 2003
Wenn der Sonnenuntergang die Luft abkühlt, gehen die bunten Beleuchtungen der großen Geschäfte, Restaurante und Pizzerias im Freien an. Das Zentrum von Bagdad mit einem Meer aus Plastikstühlen und Tischen bietet zu dieser Zeit die Atmosphäre einer Kirmes im Hochsommer. Ein Hauch von Riccione zwischen Minaretten und Kebabgeruch. Mörderischer Verkehr, Lammspieße, Bälle in den Höfen, Paare, die spazieren gehen, Kinder auf einem Karussell. Wenigstens für einige Abende wird der Krieg zur Fiktion, ausgelöscht durch diese unwirkliche Fähigkeit, sich abzuwenden und in eine Traumwelt zurückzuziehen. Ich frage mich, ob das nicht eine der außergewöhnlichen Tugenden der Iraker ist, das Erbe einer tausendjährigen Kultur, der nützlichste Rohstoff, da das Rohöl zur Beute der nächsten Eroberer wird. Isoliert von der restlichen Welt führt der Irak die Entfremdung seiner Jugend fort, die die Anzahl von unnützen Diplomen vervielfacht, englisch spricht, sich der Malerei und Dichtkunst widmet, italienischen Fußball schaut und auf Modeschauen geht. Poster von Totti und Battistuta sind die neuesten Produkte auf dem Bücher- und Zeitungsmarkt, die Iraker verkaufen sie zusammen mit dem Familienschmuck, um zu überleben. Die Zuschauerzahlen der italienischen Fußballmeisterschaft übertreffen die Einschaltquoten zu den international stattfindenden Friedensdemonstrationen.
Im kollektiven Bewußtsein erscheint Saddam wie der Krieg: bedrohlich und künstlich, unsichtbares aber allgegenwärtiges Bild in jeder Ecke der Stadt. Es ist schwer, andere Figuren zu finden, neben der Statue von Ali Baba und den Disneyfiguren, die auf die Mauern der Spielplätze gemalt sind (...) Für den laizistischen Irak, der sich westlich kleidet, der auch in dieser Nacht wieder amerikanische Musik in den Restaurants und im Radiosender von Saddams Sohn hören wird, könnte Religion der entscheidende Faktor für die Zukunft sein, mehr noch als die anderen gemeinschaftlichen Gefühle der Angst und der Resignation.
In der majestätischen Moschee Masa Al Kadim, die den Schiiten teuer ist, erneuert am Freitagabend der Gebetsritus und die Klagen der Massen die Leidenschaft von Hussein, dem Neffen des Propheten, dessen Martyrium der Ursprung des Schisma bildete. Die Geschichte und die Geographie hinterließen zwischen Euphrat und Tigris einen Teil der schiitischen Bevölkerung, eine demographische Mehrheit an der Grenze von Saddams Macht. (...) Die Kriegsdauer und die Zeit nach Saddam hängen vom Gefühl des Vorabends ab, von der Angst, die die Kapitulation hervorbringt, von der Lust eine Zukunft zu erträumen oder von der religiösen und ethnischen Implosion. Ich weiß nicht, ob sich die Iraker, die ich getroffen habe, schnell ergeben werden oder „Blut und Seele“ dem Raís opfern werden, so wie die Propaganda des Regimes es verlangt. Eines aber ist sicher: In Bagdad gibt es weder Wut noch Stolz, sondern nur die würdevolle Erwartung eines kollektiven Schuldspruchs ohne Prozess.
Paris, Januar 2005
Wir leben im Inneren einer Konstruktion aus Lügen. Diese Konstruktion hängt wiederum von einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit ab und wird von Lobbygruppen beeinflusst, die das Informationssystem kontrollieren und von denen die Entscheidungen abhängen. Wir befinden uns in der Epoche der funktionalen Lüge, die moderne Form der „Falschinformation“ im Stile der Sowjetunion, mit dem erschwerenden Umstand für das Geschehen selbst und a priori geschaffen zu sein, basierend auf der Deformation der Realität, die den Interessen und Strategien dient. (...) Es ist eine Tatsache, dass Millionen von Amerikanern immer noch glauben, der Irak sei direkt mit den Attentaten des 11. Septembers verbunden und die den Bösen zur Verfügung stehenden Waffenlager seien ein ausreichender Grund für einen Krieg. All das erscheint sogar logisch, wenn man bedenkt, dass Millionen von ihnen schon im Kino monströse Attentate, Katastrophen, Entführungen von Präsidenten, stellare Kriege und biochemischen Terrorismus gesehen haben. Bin Ladens Terrorismus ist relativ einfach zu verstehen und vielleicht zu bekämpfen, aber in unserer von den Medien kontrollierten Welt wird er zum planetarischen Hyperterrorismus. Um diesen zu vernichten reichen die Geheimdienste, die Koordination der Polizei weltweit, die Kontrolle der Finanzierungen, die Special Forces, die Diplomatie für Frieden im Mittleren Osten und vielleicht eine andere politische und wirtschaftliche Aufmerksamkeit für die Probleme der arabischen Welt nicht mehr aus. Konventionelle Kriege finden statt, mit Heeren, fliegenden Festungen, unsichtbaren Flugzeugen, hoch entwickelten Technologien und natürlich Flächenbombardierungen, tausende von zivilen Opfern eingeschlossen. Keiner hinterfragt die irrsinnigste Strategie, nämlich die, einen Staat oder ein Volk mit dem Ziel anzugreifen, einen staatenlosen Terrorismus zu vernichten, einen Terrorismus ohne Grenzen, ohne Nationalität und oftmals in unseren eigenen Gesellschaften verankert, sogar über unsere finanziellen Kanäle genährt und manchmal mit Geschäftsbeziehungen zum Westen, wie es eben der Fall war zwischen den Familien Bin Laden und Bush.
Einer terroristischen Bedrohung gegenübergestellt glaubt der Westen immer noch an die militärische Vormacht, als ob der Kalte Krieg nicht vorbei wäre, als ob wir immer noch ein Raumabwehrsystem benötigen würden, als ob die Bin Ladens dieser Welt mit Hilfe von Flugzeugträgern und Boden-Luft-Raketen eliminiert werden könnten. Vielleicht würde der Gedanke an die Helden der griechischen Mythologie helfen: War die Intelligenz des Odysseus im Grunde nicht effektiver als die Kraft des Achilles?
“Vittime” erscheint im Verlag Fazi Editore und ist ab 18. März in italienischen Buchhandlungen erhältlich. Die Erlöse aus dem Verkauf kommen der italienischen Nichtregierungsorganisation “Emergency” zu, die in Sulaimaniya im Irak ein Rehabilationszentrum errichtet.
Translated from Iraq, quando la guerra è menzogna