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Intellektuelle ganz Europas, vereinigt Euch!

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Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas und seine geheime Initiative für eine europäische Öffentlichkeit

„Eine attraktive, ja ansteckende "Vision" für ein künftiges Europa fällt nicht vom Himmel. […] Wenn das Thema bisher nicht einmal auf die Agenda gelangt ist, haben wir Intellektuelle versagt.“ - so die Worte eines der bedeutendsten Philosophen und Sozialtheoretikers der Gegenwart: Jürgen Habermas.

Er selbst jedoch ist unablässig bestrebt diesem Versagen entgegenzuwirken. Aktuellstes Zeugnis seines europapolitischen Engagements ist der gemeinsam mit seinem langjährigen französischen Kontrahenten Jacques Derrida verfasste Aufruf an europäische Intellektuelle, sich an der Bildung einer öffentlichen Meinung in Europa zu beteiligen. Sie sprechen sich für eine außenpolitische Erneuerung Europas aus, die nicht ohne eine attraktive kulturelle Vision auskomme. Um besondere Aufmerksamkeit zu erwecken und eine für die geforderte Meinungsbildung unabdingbare Diskussion auszulösen, erschien am 31. Mai 2003 nicht nur besagter Aufruf mit dem Titel „Unsere Erneuerung, Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“ (

deutscher Artikel) in der FAZ (Deutschland) und der Libération (Frankreich), sondern auch die Schriftsteller Adolf Muschg (Neue Zürcher Zeitung, Schweiz) und Umberto Eco (La Repubblica, Italien) sowie die Philosophen Gianni Vattimo (La Stampa, Italien), Fernando Savater (El Pais, Spanien) und Richard Rorty (Süddeutsche Zeitung, Deutschland) bezogen Position zum Stand der Dinge auf dem Kontinent. Wenn auch die Geheimhaltung und Abstimmungen der Beiträge im Vorhinein zwecks Überraschungseffekt gerechtfertigt scheinen, so sollte dem Inhalt des Aufrufs doch zumindest in soweit Genüge getan werden, dass die Stellungnahmen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind. Um sich über den ungekürzten Inhalt zu informieren, muss der interessierte Europäer jedoch über ein Abonnement gleich mehrerer der großen europäischen Zeitungen verfügen oder verschieden hohe Artikelpreise zu zahlen bereit sein. Der als Entstehungsbedingung für ein europäisches Bewusstsein von Habermas so eindringlich geforderten Kommunikation sind also Grenzen gesetzt.

Kommunikative Vernunft – ein Konzept für Europa?

Die sprachliche Verständigung ist es auch, die sich wie ein roter Faden durch das Lebenswerk Jürgen Habermas’ zieht.

1929 wird Jürgen Habermas in Düsseldorf geboren. Nach einem Studium der Philosophie, Psychologie, der Deutschen Literatur, Geschichte und Ökonomie arbeitet Habermas zunächst als freier Journalist (1954-59), wird jedoch 1956 von Theodor W. Adorno (Link: englisch) zur Mitarbeit am wiedereröffneten Institut für Sozialforschung eingeladen. Damit wird der Grundstein für seine Auseinandersetzung mit der empirischen Sozialforschung gelegt, unter anderem durch eine Studie zur politischen Bewusstseinslage der westdeutschen Studentenschaft. Schon dort formt sich der Grundgedanke einer zwanglosen Willensbildung als Kern des demokratischen Rechtsstaates. Es folgen Professuren in Heidelberg (1961-64) und Frankfurt (1964 -71), 1971 eine Stelle als Direktor des Max-Planck-Instituts in Starnberg und ab 1980 in München, bevor er 1982 (bis 1994) wieder an den philosophischen Lehrstuhl in Frankfurt zurückkehrt.

Aus den unzähligen Werken, Publikationen und philosophischen Auseinandersetzungen lassen sich nur schwer einzelne herausgreifen, vielmehr ist es das Gesamtwerk, welches seine Bedeutung für die moderne Gesellschaftstheorie ausmacht. Bahnbrechend für seine internationale Anerkennung waren jedoch seine Studie über „Erkenntnis und Interesse“ (1968) und die zweibändige „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1982).

Eine kritische Gesellschaftstheorie in praktischer Absicht

Als ein Grundgedanke dieser Werke ist die kritische Gesellschaftstheorie zu sehen, die aus der Frankfurter Schule (Link: englisch) entstanden ist und die Habermas sowohl fortsetzt als auch erneuert. Als bekanntester Vertreter der zweiten Generation der Frankfurter Schule will er, anders als seine Vorgänger, zeigen, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Möglichkeit zu ihrer Kritik angelegt ist. Politische Entscheidungen sind seiner Ansicht nach für die Öffentlichkeit nur gerechtfertigt, wenn sie in einem – aus einem idealerweise vernünftigen Gespräch zwischen allen Bürgern hervorgehenden – Konsens begründet werden können.

Der entscheidende Vorschlag, Denken und Handeln so zu vermitteln, dass die politische Praxis als kooperative Verwirklichung von Vernunft erscheint, setzt die Kantsche Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs fort. Ab Mitte der 80er Jahre lässt sich auch in seiner eigenen Person die Vereinigung von kritischer Theorie (philosophische Texte) und praktischer politischer Stellungnahmen (publizistische Beiträge) erkennen. Als politischer Intellektueller nimmt er Stellung zu Neokonservatismus, zivilem Ungehorsam sowie innen- und außenpolitischen Entwicklungen – nicht zuletzt und vor allem in den letzten Jahren auch zur Rolle Europas und zur fortschreitenden Europäischen Integration.

Europa ist viel mehr als ein Markt

Eine seiner europapolitischen Forderungen wird in Kürze wieder auf die politische Tagesordnung der europäischen Staats- und Regierungschefs treten, wenn sie in Rom zu den abschließenden Beratungen über eine europäische Verfassung zusammentreffen. Schon lange plädiert Habermas für eine solche Verfassung und betont deren symbolischen Charakter – seiner Meinung nach „kann sich Europa als politisches Gemeinwesen im Bewusstsein seiner Bürger nicht allein in Gestalt des Euro festsetzen“. Ökonomische Gründe sind ungenügend, es bedarf gemeinsamer Wertorientierungen und „nicht nur an die Interessen, sondern auch an die Gemüter muss appelliert werden“. Dennoch sieht er vor allem im Bereich der wirtschaftlichen Globalisierung eine wichtige europäische Handlungsmöglichkeit, die ein traditionelles europäisches Wertmuster fortsetzt. Nur ein Europa, welches mit einer Stimme spricht, wird in internationalen Finanz- und Handelsorganisationen einflussreicher auftreten und damit die Entwicklung in Richtung eines neoliberalen Systems teilweise auffangen können – die gleiche Forderung nach geschlossenem Auftreten kann fortwährend im Bereich der Außenpolitik vernommen werden.

Eine Superöffentlichkeit darf nationale Öffentlichkeiten nicht verdrängen

Ein zentrales Argument für eine europäische Verfassung liegt in ihrer Rolle zur Bildung einer europaweiten politischen Öffentlichkeit, da sie grenzüberschreitende Kommunikation notwendig macht. „Schon der verfassungsgebende Prozess hat das Potenzial zu einer self-fulfilling prophecy“ (Habermas 1999) – von den viel versprechenden "Arenen der öffentlichen Kommunikation" haben sich in den letzten Monaten jedoch nur wenige aufgetan, um mit dem Konvent über eine zukünftige Verfassung zu debattieren.

Auch die wenigen existierenden „europäischen Medien“ wie Financial Times oder International Herald Tribune sprechen eher eine Wirtschafts- und Politikelite als den europäischen Normalbürger an. Doch wie kann es gelingen, die europäischen Gesellschaften zu einem Austausch, mit Habermas’ Worten zu einem grenzüberschreitenden Diskurs, anzuregen und im Laufe dieses Prozesses eine tiefere, dauerhafte Legitimation und stärkere politische Integration der Europäischen Union zu erreichen?

Avantgardistisches Kerneuropa

An dieser Stelle rücken wieder „die Intellektuellen“ (wie auch die Politiker) ins Blickfeld, die der Bevölkerung das europäische Projekt näher bringen könnten, indem sie es von seiner abstrakten Expertenebene auf ein einfaches und diskutierbares Niveau heben. Mit seiner bisher wohl einzigartigen Intellektuellen-Initiative, die sicherlich auch als Gegenvorschlag zum „Brief der Acht“ (deutsche Version) vom 31. Januar (unter Führung Großbritanniens und Spaniens bekunden acht EU-Staaten und -Beitrittsländer ihre Unterstützung für die amerikanische Außenpolitik) gesehen werden kann, hat er jedoch sein hohes Ziel kaum erreicht – die Resonanz der europäischen Intellektuellen hielt sich in Grenzen.

Er erntet Kritik unter anderem von Günter Grass (deutscher Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger), von Harold James (US-amerikanischer Historiker) und von Ralf Dahrendorf (deutscher Soziologe) – zum weitaus größeren Teil sind es aber die Feuilletons der großen Zeitungen selbst, die sich im Nachhinein mit der von ihnen präsentierte These auseinandersetzen. Da wird ein „vor Überlegenheit strotzender Euro-Nationalismus“ sowie „ein rüder Umgang mit Osteuropa“ festgestellt und mit Enttäuschung eine Definition der europäischen Identität über die Differenzen zur Bush-Regierung betrachtet. Trotz aller Kritik kommt ein TAZ-Kommentator (Deutschland) zu dem Ergebnis:

„Dennoch sollten Habermas und Derrida offene Ohren finden. Was sie schreiben, darf nicht als europäisches Selbstlob gegenüber den USA gelesen werden, sondern als Ansatz einer Chance, wie die Europäer für eine alternative Politik gewonnen werden können. Diese Chance zu ergreifen bedeutet Streit. Auch bei uns, im alten Europa.“