Instagram: Wie künstlich sind unsere Erinnerungen?
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Lilian PithanÜberbleibsel aus der Vergangenheit, sei es ein Foto, ein Musikstück oder ein Geruch, sind immer der Verfälschung ausgesetzt. Im Zeitalter der obsessiven Dokumentation unseres Privatlebens verändern wir die fotografische Realität durch Zurechtschneiden, Taggen, Löschen und den Gebrauch von Filtern. Produzieren wir so nur noch "falsche Erinnerungen"?
Die simulierte Welt, die von den neuesten digitalen Technologien geschaffen wird, scheint auf Anhieb dystopisch, aber sie gibt uns auch die Möglichkeit, unsere Persönlichkeit nach eigenem Gusto zu verändern. Dieses Foto ist von den Aufnahmen in einem Nan Goldin-Fotoband inspiriert, der beinahe zur Grundausstattung jeder Kreuzberger Wohnung zählt. Denn als Wahlberlinerin sehne auch ich mich natürlich nach dem individuellen, bohemienhaften Touch der urbanen Ästhetik von Nan Goldin. Deswegen werde ich mein Foto auf Facebook, Instagram und Pinterest posten, begleitet von den Hashtags #bohemianlifestyle, #heroin chic und #intellectual. Wenn das Endprodukt überzeugend wirkt, dann aber nur dank Instagram, womit ich perfekt verbergen kann, dass die ganze Szene nur gestellt ist. Denn eigentlich hat mein Mitbewohner das Bild gemacht, rauche ich gar nicht, habe ich das strategisch auf dem Sofa platzierte Buch über Kunst und Aktivismus gar nicht gelesen und bin sogar hellwach. Aber wenigstens sehe ich cool aus.
Instagram ist der wahrscheinlich farbenfrohste Darsteller im Zirkus der gefälschten Erinnerungen. Dank skeumorphischen Filtern, verschwommenen Rändern und körniger Analogfilm-Optik können hochmoderne Smartphone-Schnappschüsse in uralt wirkende, aufwändig entwickelte Fotos verwandelt werden. Dabei sind Instagram-Fotos gleichzeitig selbstreflexiv und deutlich von einer Logik des Fotomoments geprägt, nach dem wir alle ständig auf der Jagd sind, seit unsere Gegenwart nur mehr zu einer Gelegenheit geworden ist, die Vergangenheit zu dokumentieren. Aber trotz dieser Künstlichkeit versucht ein Instagram-Foto doch immer, Authentizität und Spontaneität zu vermitteln, indem es zusammengebastelte Geschichten als Wirklichkeit präsentiert. Das Resultat sieht wie der Inhalt eines Fotoalbums aus den 1970ern aus und verbreitet automatisch einen Hauch von Nostalgie, die unseren geistlosen Schnappschüssen wiederum das Label der "wahren Erinnerung" verleiht.
Die welt ist so wunderschön - auf instagram
Durch einen Instagramfilter sieht einfach alles besser aus. Sogar etwas so Alltägliches wie ein Take-Away-Kaffeebecher kann heutzutage nostalgische Reaktionen hervorrufen. Dank Instagram kann sogar ein peinlicher Abend mit einem Bekannten in #NightofMyLife verwandelt werden. Es ist nicht nur äußerst komisch, dass wir online schamlos Unwahrheiten verbreiten, sondern auch hochgradig gefährlich, sollten diese rosigen Fotos mit der Zeit zu scheinbar wirklichen, aber doch gefälschten Erinnerungen werden. Werden wir vielleicht eines Tages genau dieses Foto betrachten und uns fragen, warum wir nie mit dieser Person in Kontakt geblieben sind, obwohl wir doch so gute Freunde waren?
Die Psychologin Elizabeth Loftus kennt sich mit fiktiven Erinnerungen aus (TED Talk).
Glaubt man der Psychologin und Erinnerungs-Expertin Elizabeth Loftus, dann laufen wir alle Gefahr, unsere Erinnerungen zu verfälschen. Wem falsche Informationen gefüttert werden, der erinnert sich mit Leichtigkeit an Dinge, die so nie passiert sind. Loftus selbst hat mehrere Experimente durchgeführt, die sie zu dem Schluss führten, dass es relativ einfach ist, falsche Erinnerungen in das menschliche Gehirn einzupflanzen. Das können Kindheitserinnerungen an das eigene Verirren im Supermarkt sein oder auch an Beweisstücke, die so nie existierten. Da wir dies mit großer Leichtigkeit vollbringen, liegt der Schluss nahe, dass wir - durch die Dokumentation unser zusammengebastelten Geschichten und dank der Bereitschaft, unseren eigenen Hirngespinsten zu glauben - auch bewusst falsche Erinnerungen produzieren können.
Auf der Suche nach der ungeschminkten Wahrheit
Ein anderer Grund für den Hype um die prä-digitale Fotografie ist auch eine unbewusste Sehnsucht nach Authentizität in einer so hochgradig simulierten Welt. Heutzutage reproduzieren wir vor allem die Schnappschuss-Ästhetik, die in den 1980ern und 1990ern von Nan Goldin und Corinne Day berühmt gemacht worden ist. Ihre ehrlichen und oft ungeschminkten Bilder funktionierten wie Fenster in ihr Leben, die starke Emotionen und eine Insiderperspektive auf die Subkultur der Junkies, Transvestiten und AIDS-Kranken freigeben. Diese Fotos gelten heute als "echt" und "roh" und besitzen somit genau die Merkmale, die wir gerne in unseren eigenen Fotos wiedererkennen wollen. Die meisten Instagram-User werden wohl eher nicht zu illegalen Partys gehen, Heroin spritzen, gemeinsam in die Wanne springen oder ein gutes fotografisches Auge haben - aber das ist auch ganz egal. Denn mit dem 80er-Filter kann man ganz einfach anderer Leute Erinnerungen zu den eigenen machen und den gesuchten "Look" erreichen. Meine Aneignung eines Goldin-Fotos mag jetzt noch peinlich sein, aber wer weiß: Vielleicht werde ich in naher Zukunft vergessen, dass ich diesen Artikel geschrieben habe, und meiner eigenen Lüge Glauben schenken?
Translated from Instagram: How phony are your memories?