Indien: Kampf gegen die Ungerechtigkeit
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leonie müßigZwei Drittel der indischen Mädchen werden verheiratet, bevor sie volljährig sind. Menschenrechtsorganisationen kämpfen gegen das traditionelle Kastensystem.
Indiens Verfassung ist mit mehr als 117 000 Wörtern die umfangreichste der Welt. Sie stützt sich auf acht Prinzipien. Eines davon lautet: „Sowohl Minderheiten als auch Stammesgebieten, wirtschaftlich unterentwickelten Regionen und verarmten Gesellschaftsschichten sollten angemessene Lebensverhältnisse ermöglicht werden.“ Da noch immer fast 70 Prozent der indischen Bevölkerung auf dem Land leben, hat die Regierung mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen, um diesen Abschnitt der Verfassung umzusetzen.
Riskanter Alltag
Subash Mohapatra ist der Gründer und Leiter der NGO (Nicht-Regierungs-Organisation) Forum for Fact-Finding Documentation and Advocacy(FFDA). Zuvor arbeitete er für eine der einflussreichsten Zeitungen Indiens. Wie kam es zu dem Wechsel von seinem bequemen Büro in Neu Delhi zum riskanten Alltag eines Menschenrechtsaktivisten?
Alles fing an, als Subash sich in einem Krankenhaus von der Malaria erholte. Eines Morgens sah er dort ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit einem Baby. Beide lagen tot auf einer Bahre. Als er fragte, an was die beiden Schwestern gestorben seien, antwortete die Krankenschwester: „Das sind keine Schwestern. Das Mädchen ist die Mutter des Babys und beide sind während der Entbindung gestorben.“ Einige Monate später gründete Subash FFDA. Sein oberstes Ziel: Die illegale, aber in der Gesellschaft akzeptierte Praxis der Verheiratung Minderjähriger an den Pranger zu stellen.
Obwohl die indische Gesetzgebung diese Praxis seit 1929 verbietet, werden unter dem Schutzschild der Tradition solche Heiraten weiterhin zuhauf organisiert. Vor allem in Familien mit begrenzten finanziellen Mitteln geschieht dies häufig. Etwa ein Drittel der indischen Mädchen werden verheiratet, bevor sie 15 Jahre alt sind. Ein weiteres Drittel ist schon verheiratet, wenn sie 18 werden, dem gesetzlichen Mindestalter, um in Indien eine Ehe einzugehen. Dieser gesellschaftliche Brauch betrifft in erster Linie die Mädchen und er bringt für sie die meisten Probleme mit sich. Ihre Körper sind noch nicht dafür bereit zu gebären. Ein 15-jähriges Mädchen, das dazu gezwungen wird, ein Kind zu bekommen, bekommt keine Ausbildungschancen und wird wirtschaftlich abhängig gemacht. Das frühe Heiratsalter hat für die Mädchen geistige und körperliche Schwäche für den Rest ihres Lebens zur Folge.
Gerechtigkeit für die „Unberührbaren“
Die FFDA will Gerechtigkeit für all diejenigen, die keine Stimme haben und die für niemanden wichtig sind. In Indien gibt es noch viele Menschen, die wie in einem unsichtbaren sozialen Gefängnis leben. Das Kastensystem ist zwar gesetzlich verboten, es bleibt aber allgegenwärtig. Millionen von Inder gelten als Bürger, die weniger wert sind. Für sie sind die Verfassung, die Prinzipien und die Gesetze hohle Phrasen. Dies ist eine Wirklichkeit, die man in den meisten Reiseführern über Indien nicht findet.
Ein Opfer dieser Diskriminierung ist vor allem die Gemeinschaft der Dalit, bekannt als „die Unberührbaren“. Die Dalits arbeiten in Gerbereien, räumen die Exkremente der unzähligen Tiere weg, die durch die Straßen streunen, sie sind Schuhputzer, fliegende Händler oder Bauern ohne Land. In einigen Dörfern ist es immer noch nicht erlaubt, dass der Schatten eines Dalit den Weg eines Brahmanen, dem Angehörigen der höchsten Kaste, kreuzt. Es bestehe die „Gefahr der Verunreinigung“. Aus diesem Grund wird vielen „Unberührbaren“ befohlen, den Boden zu fegen, den sie betreten. Die FFDA engagiert sich im Kampf gegen die unbegründete Inhaftierung der Dalit, deren Mitglieder oft ohne Gerichtsverfahren monatelang gefangen gehalten werden.
Die FFDA setzt sich auch für die Fälle von Mädchen und Frauen der Adivasi ein, die von lokalen Führungspersonen, von Polizeibeamten oder spirituellen Führern vergewaltigt wurden und die nicht wagen, jemanden anzuzeigen. Die Adivasi stellen acht Prozent der indischen Bevölkerung. Sie schließen die verschiedenen Volksgruppen ein, deren Lebensart, Bewirtschaftungstechniken und religiöse Praxis sich über die letzten zweitausend Jahre hinweg kaum geändert hat. Für die indischen Behörden gelten die Adivasi als ein minderwertiges Volk. Sie bemächtigen sich ihres Landes und privatisieren ihre Wälder und Flüsse. Oft genug werden Adivasi ohne irgendeine Form der Entschädigung aus ihren Dörfern vertrieben. Das alles geschieht im Namen des Fortschritts, der in der ganzen Welt die Minderheiten an den Rand drängt.
Fotos: JDR
Kinderarbeit: Die Fakten
Die UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, das sich für die Rechte der Kinder, für deren Überleben, Entfaltung und Sicherheit einsetzt, schätzt, dass weltweit etwa 246 Millionen Kinder arbeiten müssen. Davon arbeiten 171 Millionen unter besonders gefährlichen Bedingungen.
Laut UNICEF ist jedoch nicht jede Form von Kinderarbeit negativ. UNICEF unterscheidet deshalb zwischen zwei Formen von Kinderarbeit: „Kinderbeschäftigung“ und „Kinderarbeit“.
Kinderbeschäftigung (child work)
Kinderbeschäftigung umfasst jegliche Teilnahme an ökonomischen Aktivitäten, welche die Gesundheit und Entwicklung des Kindes nicht negativ beeinflusst und die Ausbildung des Kindes nicht behindert. Nach Artikel 138 der ILO (International Labor Organisation) sind leichte Tätigkeiten ab einem Alter von zwölf Jahren erlaubt.
Konkret können dies Tätigkeiten zu Hause sein, auf dem häuslichen Bauernhof oder im Familienunternehmen. Kinderbeschäftigung ist dann vertretbar, wenn sie nicht gesundheitsgefährdend ist und die Kinder nicht am Schulbesuch und an üblichen kindlichen Aktivitäten hindert.
Kinderarbeit (child labour)
Kinderarbeit beinhaltet jede Tätigkeit, welche die Richtlinien der Konvention verletzt. Von Kinderarbeit spricht man, wenn Kinder unter zwölf Jahren und Kinder im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren schwere Arbeit leisten müssen.
Zu den schlimmsten Formen von Kinderarbeit zählt UNICEF Sklaverei, gewaltsamen Arbeitsdruck, Prostitution, Schwarzhandel, Zwang zu illegalen Tätigkeiten und gefährliche oder gesundheitsgefährdende Arbeitsumstände.
Hoffnungsvolle Projekte
UNICEF kann gegenwärtig die Kinderarbeit nicht vollkommen abschaffen. Trotzdem kann viel getan werden, um die Arbeitsbedingungen für Kinder zu verbessern und somit „positive“ Kinderarbeit zu schaffen.
Ein Projekt in Firozabad, im indischen Bundesland Uttar Pradesh, widmet sich Kindern, die unter gefährlichen Bedingungen in einer Fabrik für Glasarmreifen arbeiten. Mit Straßenaufführungen und Shows werden die Kindern und ihre Eltern über die Gefahren dieser Arbeit informiert. Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren haben die Möglichkeit, nach der Arbeit das „alternative Lernzentrum“ zu besuchen. Dies ist ein weiter Schritt in Richtung einer formalen Ausbildung. In Zusammenarbeit mit der norwegischen Regierung hat die UNICEF in Nepal das Projekt „Bal Bikas Kendras“ ins Leben gerufen. Es handelt sich dabei um ein Kinderentwicklungszentrum auf Gemeinschaftsbasis, das arbeitenden Kindern sechsmal in der Woche zweistündigen Unterricht anbietet.
Text: Louise Bongiovanni - Übersetzung: Hanna Ronzheimer
Translated from Tener hijos a los 12 años en India