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Im türkischen EU-Beitrittsverfahren stößt Ankaras Geduld an ihre Grenzen

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Brüssel

Von Anika Gatt Seretny Übersetzt von Sebastian Seiffert Der lange und umstrittene Verhandlungsprozess scheint eine neue Phase erreicht zu haben. Der geduldigste EU-Beitrittskandidat verliert offenbar das Interesse an der Integration.

Über Jahrzehnte hinweg waren die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zwar kompliziert, beruhten aber auf einer einfachen Grundstruktur: Ankara bemühte sich nach Kräften, in den Klub der 27 aufgenommen zu werden, und Brüssel ließ sich ordentlich bitten.

Seit dem ersten türkischen Beitrittsantrag Ende der 1980er Jahre hat die Türkei viele andere Länder an sich vorbeiziehen sehen, obwohl deren Verhandlungen später aufgenommen wurden.

Das Verhältnis wurde dynamischer, als 2005 endlich das formelle Beitrittsverfahren mit seinen 33 Verhandlungskapiteln eröffnet wurde. Der türkische Premierminister Erdogan hoffte damals auf einen Beitritt bis 2012.

nzwischen sind wir im Jahr 2012 angekommen und die Türkei ist immer noch nicht „drin“. Ja, mehr noch – Jose Manuel Barroso sagt, vor 2021 werde Ankara keinen Anlass haben, den vollzogenen Beitritt mit einem Feuerwerk zu feiern.

Obwohl das Land also wohl noch fast ein weiteres Jahrzehnt auf den EU-Beitritt warten müsste, verkünden türkische Regierungsbeamte, dass Land sei weiter am Beitritt interessiert. Aber stimmt das auch – sind die Türken tatsächlich so geduldig?

Plan B für Brücke

Zwischen 2003 und 2010 sank die Zustimmung der Türken zur EU-Mitgliedschaft von 73 auf 38 Prozent. Und die Zukunftsaussichten scheinen keineswegs günstiger. Die Wirtschaft in der Eurozone stagniert, und Europas Bevölkerung altert.

In der Türkei hingegen betrug das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr über 8 Prozent. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Mit seinem jungen und dynamischen Arbeitskräftepotential und dem großen Absatzmarkt im Inland ist die Türkei nicht mehr in der Rolle der lästigen Kusine, die man aus Mitleid mit an der Familientafel sitzen lässt.

Jenseits des Wirtschaftsbooms und der ihn tragenden unermüdlichen Arbeitskräfte hat sich das Land auch außenpolitisch neu aufgestellt. Das Mantra lautet nicht mehr länger reflexartig „Go West!“, Ankara hat unlängst einen offeneren Ansatz gegenüber seinen östlichen Nachbarn verfolgt. Der neue außenpolitische Ansatz „Keine Probleme mit unseren Nachbarn“ hat der Türkei diplomatische Lorbeeren und eine neue regionalpolitische Rolle eingebracht.

Es ist eine andere Türkei als die, die sich 1987 zum ersten Mal in Brüssel um die Aufnahme beworben hat. Sie ist stärker in der Region, wohlhabender als je zuvor und auch in höherem Maße stolz auf ihr Erbe und ihre Geschichte.

Aus diesen Gründen ist es nur rational, dass eine schwache, relativ ärmer werdende und orientierungslose EU auf die Türken weniger attraktiv wirkt. Wenn man doch aus eigener Kraft Reichtum und eine Rolle als respektierte Regionalmacht erwerben kann, wozu braucht man dann die 27 noch?

Die Türkei wird oft als Brücke zwischen Ost und West beschrieben, mit Istanbul als emblematischer Verkörperung dieser Funktion. Eines wird dabei oft übersehen: eine Brücke braucht Ankerpunkte auf beiden Seiten des Hindernisses oder der Kluft, die sie überspannt. Ist sie nur noch der einen Seite verbunden, hört sie auf, Brücke zu sein. Wenn die Türkei Mittler zwischen der arabischen und der europäischen Welt sein soll, kann sie zu keiner Seite ganz gehören. Die gute Nachricht ist, dass die Türkei für diese Mittlerrolle perfekt aufgestellt ist.

Es ist möglich, dass die angekündigte Heirat zwischen Ankara und Brüssel platzt. Aber möglicherweise ist das auch gar nicht schlimm. Manche Paare funktionieren besser als Fernbeziehung.