Im Schlabberlook zum Bataclan
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Am 13. November sind mehr als 120 Menschen bei Terroranschlägen in Paris ums Leben gekommen. Die französische Hauptstadt blutet. Der Schock sitzt tief. Ein Augenzeugenbericht.
Freitagabend. Alles beim Alten. Ich gehe zum Fußballtraining, fahre nach Hause und lümmel mich aufs Sofa. Auf dem Fernseher verfolge ich - eingehüllt ich eine kuschelige Fleecejacke - die Partie Frankreich gegen Deutschland. In der 81. Minute unterbricht sich der Kommentator und sagt mit tiefer, nachdenklicher Stimme: „Es hat sich etwas Schlimmes zugetragen. Wir werden die Spieler nach dem Match nicht interviewen, sondern eine Spezialsendung ausstrahlen.“
Während die französischen Fans das 2:0 in der 86. Minute feiern, aktiviere ich meinen Twitter-Account. Von meinem Wohnzimmerfenster aus sehe ich Blaulichter auf der Stadtautobahn vorbeirauschen. Die Straße vor meinem Haus ist leergefegt. Vorboten eines schrecklichen Ereignisses.
23.41 Uhr. Meine Telefon klingelt. Es ist Richard Gutjahr. Moderator der „Rundschau Nacht“ im Bayrischen Rundfunk. Er bittet mich, sofort ins Taxi zu steigen, zum Tatort zu fahren und in 20 Minuten in seiner Radiosendung live einen Augenzeugenbericht abzugeben. Ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, wie er meine Handynummer herausgefunden hat, aber ich sage zu. Mit der flauschigen Fleecejacke und Gummistiefeln (muss man nicht schnüren) schwinge ich mich schnell aufs Rad. Ein Taxi anzurufen, würde zu lange dauern.
Meine Knie schloddern. Krankenwagen heizen an mir vorbei. Ich fühle mich klein und verletzlich. Mit einer ungeschickten Handbewegung schalte ich ungewollt mein Handy aus. 64 Updates müssen installiert werden. Ich schwitze Blut und Wasser. Die Zeit tickt. Ich soll auf Sendung gehen. In wenigen Minuten. Noch 53 von 64 Updates. Ich nähere mich der Place de la Bastille. Ausnahmezustand. Soldaten in Tarnkleidung und großem Gewehr vor der Brust versperren mir den Weg. Mein erster Gedanke: Krieg. So viele Streifenwagen auf einem Haufen habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Dann klingelt mein Handy. 00.05 Uhr. Nach der Anmoderation soll ich loslegen. Mit den Worten „Guten Abend“ fange ich an und bereue die Floskel sofort. Ich schildere, was ich sehe und höre. Meine Sätze sind unzusammenhängend. Mein Gedanken überschlagen sich. Viele Soldaten, Polizisten. Alles abgesperrt. Hektische Zivilisten. Zehn Menschen, die sich um Motorrad mit Radioempfang scharen. Sirenen. Notärzte, Starre... „Vielen Dank nach Paris“. Es ist vorbei. Die Anspannung bleibt.
Wie von einem Sog werde ich vom Bataclan angezogen. Bis auf 400 Meter darf ich mich mit meinem Fahrrad dem Unfallort annähern. 00.33 Uhr. Die Einsatzkräfte stürmen die Konzerthalle. Ich habe Hunger und Herzrasen. Mein Twitter-Account erfreut sich neuer Follower. Ich schäme mich für diesen Gedanken und beschließe nach Hause zu fahren. Die Stadt ist still, nur die Sirenen heulen. Sanitätsautos pesen an mir vorbei. Richtung Hôpital de la Salpêtrière. Wird der Mensch überleben oder ist es zu spät? Und warum wurde ich verschont?