Im Herzen der orangefarbenen Revolution – Teil 1: Kiewer Winter
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katrin schlundErster Teil einer Reihe aus drei Reportagen, die am Vorabend der ukrainischen Präsidentschaftswahlen vom 26. Dezember entstanden. Welche Hoffnungen hegte die auf den Straßen campierende Jugend?
Hrynjoly erwartet eine rosige Zukunft. Seit diese bis dato in der Ukraine eher unbekannte Musikgruppe „Razom Nas Bagato“ singt, lebt die Kiewer Bevölkerung ganz nach dem Rhythmus dieses Liedes, der Wahlkampfhymne Juschtschenkos. In der Kreschatik-Straße kann man keine 100 Meter zurücklegen, ohne ihre Melodie zu vernehmen. Seit am 21. November 600.000 Menschen auf Maidan nezalesnosti, den Unabhängigkeitsplatz gezogen sind, um friedlich gegen die Fälschungen beim zweiten Wahlgang zu protestieren, ist die Stadt nicht mehr dieselbe. Sie wurde zu einem Ort der Bürger und der improvisierten Behausungen. Und zu einem Ort der Demokratie.
Freiheit oder Tod
Der Kreschatik ähnelt mittlerweile einer Freiluftbühne. In den Zelten befindet sich die ukrainische Jugend mit ihrer Zuversicht, ihren Idealen und ihrer Lust auf Veränderung. Wie bei jedem Protest bildet die Jugend die Speerspitze der Revolution. Wird dem Kiewer Winter also ein anderes Schicksal als dem Prager Frühling zuteil werden? Noch vermag dies an jenem 24. Dezember, zwei Tage vor dem Urnengang, niemand zu sagen. Wenn ich als Westeuropäer die vielen hundert Zelte betrachte, dann kann ich nicht umhin, dieses Volk zu bewundern und zu beneiden. Dafür, dass dieses Volk noch weiß, was es bedeutet, für seine Rechte zu kämpfen ...
Oxana legt seit einem vollen Monat ihren orangefarbenen Schal und ihre rot-schwarze Flagge, die Freiheit oder Tod symbolisiert, nicht mehr ab. Seit einem Jahr lernt sie französisch in Clermont Ferrand im Herzen Frankreichs. Aber anders als viele ihrer Mitbürger hat sie nicht versucht, dort zu bleiben. Ihr Traum bestand nicht darin, auszuwandern um ein besseres Leben zu führen. Sie ist davon überzeugt, dass die Mentalität der Menschen sich im Zuge der ukrainischen Revolution verändert hat: „Wir sind es leid, fliehen zu müssen um frei leben zu können. Die Jugend will künftig an der Gestaltung und dem Aufbau des eigenen Landes teilhaben. Denn Janukowitsch und Kutschma hatten den Ukrainern ihre Rechte und Reichtümer vorenthalten.“ Ihr einziges Bedauern: „Ich darf nicht zur Wahl gehen, weil ich erst siebzehn bin.“ Aber in den Demonstrationen hat sie das Engagement gefunden, das sie so lange vermisst hat. Viele junge Leute haben ihre Prüfungen abgesagt oder ihren Job aufgegeben, um zu demonstrieren und in den Zelten die Stellung zu halten. Nachholunterricht für die Studenten ist für die Zeit nach den Wahlen schon geplant. Der Kreschatik wurde auf seiner ganzen Länge von bis zu 12.000 Menschen besetzt, mittlerweile sind es weniger geworden, weil die Lage sich beruhigt hat. Dabei zählt Kiew insgesamt mehrere Duzend solcher Camps, die über die ganze Stadt verteilt sind. Die jungen Bewohner der Zelte sind aus dem ganzen Land angereist, aus Charkiw, Lwiw, Kiew ...
Küken mit Stirnband
Viele schmücken sich wie Oxana mit der gelb-schwarzen Armbinde von PORA. Die Studentenbewegung, die sich auf Flugblättern mit dem Bild eines Kükens präsentiert, welches gerade aus dem Ei geschlüpft ist und ein Stirnband wie Rambo trägt, will für diese Jugend stehen. Kämpferisch und fordernd. Brice Bader, ein Franzose, der zurzeit im Camp lebt, wohnt mit seiner ukrainischen Freundin in Kiew. Er hat beobachtet, wie sich die Bewegung entwickelte: „ PORA führt die Jugend dank ihrer Methoden und einer geschickten Kommunikation zusammen. Es waren Leute von PORA, die die ersten Zelte in der Nähe des Kontraktova-Platzes und bei Kutschmas Haus aufgeschlagen haben, und so gezeigt haben, dass es möglich ist. Und die PORA-Bewegung hat auch die ersten Camps in anderen Städten des Landes organisiert. Außerdem hat sie die Demonstranten zu Beginn der Revolution in Bussen anfahren lassen, als die Regierung versuchte, die Camps in der Provinz zu schließen und den Fahrkartenverkauf für den Zugverkehr nach Kiew einschränkte.“ Auch wenn PORA sich selbst lieber als Bewegung bezeichnet, so handelt ist sie sich doch straff und hierarchisch organisiert. Man könnte daher eher von einer veritablen Organisation sprechen.
In den kleinen Lokalen und Bistros in der Desatinna-Straße treffen sich täglich an die zehn Leute zur Vorbereitung der „Kampagne“. Wie schon zuvor bei OTPOR in Serbien oder KMARA in Georgien ist das Ziel der Organisation klar: Man will ein Gegengewicht zur Regierungsmacht bilden. „Wir wollten politische Aktivisten werden, und wir wählten die Gewaltfreiheit, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Wir versuchen heute, die mangelnde Kommunikation innerhalb unserer Gesellschaft kompensieren, indem wir auf die Bedürfnisse der Bevölkerung reagieren und ehrliche Wahlen gewährleisten“, erklärt Vladimir Khaskiv, der Vorsitzende der Zivilkampagne. Auch die Methoden verbesserten sich im Verlauf der Proteste: „Wir haben eine Datenbank mit den Mobilfunknummern unserer Mitglieder erstellt, damit wir per Kurznachricht innerhalb kürzester Zeit an jedem Ort maximalen Druck erzeugen können. Und wir benutzen das Internet, um unsere Ideen zu verbreiten.“ Ohne das Internet, so versichert er, hätten sie es niemals geschafft. Auf der Website finden sich auch Kontaktadressen für die Planung von Aktionen, sowie Presseartikel, Bilder und eine Fotogalerie. Mit 4000 Verbindungen täglich hat Anastasia Bezverkha viel zu tun. Ohne von ihrer Arbeit aufzublicken sagt sie: „Wir haben eine neue Art der politischen Aktion und eine neue Generation von Aktivisten in der Ukraine geschaffen. Einige wollen tatsächlich weiterhin aktiv bleiben, Einfluss gewinnen und so die Demokratie fördern.“ Manche Fragen bleiben jedoch unbeantwortet: Wie konnte sich eine Bewegung, die erst im Frühling entstanden war, so schnell konstituieren? Und werden sich diese „Gegenkräfte“ wieder auflösen, sobald die Revolution beendet ist?
Ein Monat im Zelt
Unweit hisst ein anderes Camp die gelb-schwarze Flagge der PORA-Organisation in der Nähe des Präsidentensitzes. PORA, die auf dem Kreschatik, einem eher spontanen Treff- und Sammlungspunkt, kaum präsent ist, konzentriert sich mehr auf die bedeutenden Orte in Kiew wie den Sitz des Präsidenten und die „Rada“, das ukrainische Parlament. Am heutigen Abend halten noch mit Helmen und Knüppeln ausgerüstete Polizisten Wache. Der Chef des Camps, Aleksandar, kommt her und begrüßt mich: „ Wir sind hier jetzt schon seit einem Monat in unseren Zelten. Und wir werden gewinnen. Kutschma betritt seinen Präsidentenpalast nicht mehr. Wir sehen ihn gar nicht mehr vorbeikommen, es gibt keinerlei Anzeichen für irgendwelche Aktivitäten seinerseits. Er hat sich wer weiß wohin verkrochen“, erklärt er mir. Dann schlägt er vor: „Könnten Sie nicht ein Foto von uns machen?“ Oxana nähert sich uns, die rot-schwarze Flagge auf dem Rücken. Die Demonstranten gesellen sich zu ihr, nur einen Meter von den Polizisten entfernt, die anlässlich dieser Situation lachen. Offensichtlich sind sie daran gewöhnt.
Zwei Tage vor den Wahlen scheint das Spiel bereits gewonnen. Wieder erklingt „Razom Nas Bagato“, die Hymne Juschtschenkos. „Wir sind zahlreich, und wir sind unbesiegbar“, sagt er. Er hat Recht.
Translated from Au cœur de la révolution orange – Episode 1 : L’hiver de Kiev