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Hrant Dink-Nachfolger Aris Nalci: "Die Angst sitzt immer mit am Schreibtisch"

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rfi

Gesellschaft

Wenn ethnische Konflikte die Pressefreiheit zur Strecke bringen: Ein Gespräch mit Aris Nalci, einem der Nachfolger des 2007 ermordeten Agos-Chefredakteurs Hrant Dink, in Istanbul.

©Necat Nazaroğlu/ 100100 ProjectDas Jahrhundertwende-Wohnhaus fällt an einer der großen Durchgangsstraßen in Istanbul kaum auf, kein Schild an der schweren dunkelbraunen Eingangstür, viele Klingeln. Irgendwo mittendrin, in einer ehemaligen Wohnung, produzieren 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Hassobjekt vieler fanatischer türkischer Nationalisten: Die Wochenzeitung Agos, die einzige in der Türkei, die auf Türkisch und auf Armenisch gedruckt wird. Vor drei Jahren erschoss ein Jugendlicher aus der Schwarzmeerstadt Trabzon einen der bekanntesten Journalisten in der Türkei: Hrant Dink, Chefredakteur der armenisch- und türkischsprachigen Wochenzeitung Agos. Weil sich Hrant Dink für mehr Demokratie in der Türkei und für die Rechte der armenischen Minderheit einsetzte, zog er sich den Hass türkischer Nationalisten zu. Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs verbietet die "Verunglimpfung des Türkentums": Nicht nur für Amnesty International ist der Gummiparagraph eine Bedrohung der Meinungsfreiheit. Immer wieder klagen türkische Staatsanwälte kritische Geister - vor allem solche, die vom „Völkermord“ an den Armeniern sprechen - nach diesem Artikel an. Auch mehr als drei Jahre nach dem Mord an Hrant Dink bekommt die Redaktion Drohanrufe und Mails mit wüsten Beschimpfungen. Der 29 Jahre junge Aris Nalci hat 2007 die Redaktionsleitung übernommen. Allmählich wirkt die mühsame Arbeit der Agos, die sich für mehr Demokratie in der Türkei einsetzt. Doch der Weg zur Normalität ist immer noch weit.

Seit wann gibt es die türkisch-armenische Wochenzeitung Agos?

Aris Nalci: Agos wurde 1996 gegründet. Gründer waren Hrant Dink, seine Familie und Freunde. Zwölf Leute haben damals für Agos gearbeitet. Zunächst erschien die Wochenzeitung auf Türkisch. Wir fingen zunächst mit der türkischen Sprache an, weil die Familien, die nach 1915 in Anatolien geblieben sind, kein Armenisch gelernt haben. Die Schulen und Kirchen waren geschlossen. Erst nach 1947 sind Armenier nach Armenien, in die USA und in die großen türkischen Städte wie Istanbul ausgewandert.

Wie gefährlich ist es Chefredakteur der Agos zu sein?

Aris Nalci: Es ist ein gefährlicher Job, aber das weiß jeder, der hier arbeitet. Deswegen wollte auch niemand nach 2007 für die Agos die Verantwortung übernehmen. Man wird angeklagt, verklagt, vor Gericht geladen. Wir haben von Hrant Dink gelernt, dass man vor Klagen oder auch vor den Vorladungen zum Gericht keine Angst haben muss. Wir bekommen Droh-E-Mails, Hacker-Angriffe, aber irgendwann wird das normal. Doch es ist nicht normal. Das Gefühl vor irgendetwas Angst zu haben, habe ich nach dem Mord an Hrant Dink 2007 komplett verloren. Ich spreche und schreibe immer offener über die Dinge. Und jetzt sehe ich, dass es funktioniert. Trotzdem sitzt die Angst immer mit am Schreibtisch.

Wie hat sich die Berichterstattung bei Agos seit dem Tod von Hrant Dink gewandelt?

Aris Nalci: Damals war Hrant Dink der einzige, der über armenische Themen öffentlich gesprochen und in den Medien geschrieben hat. Jetzt sind es viele. Allein hier bei der Agos haben wir 24 verschiedene Kolumnisten. Drohungen richten sich jetzt also gegen 24 Leute. Das gleiche gilt für die gesamte armenische Gemeinde. Sie bekommt als Ganzes jetzt die Drohungen ab. Hrant Dink war damals alleine. Da hat die armenische Gemeinde eine Mitverantwortung, weil sie Hrant Dink allein gelassen hat.

Ist eine Entspannung der ethnischen Auseinandersetzungen in der Türkei in Sicht?

Aris Nalci: Neuerdings sprechen wir in der Türkei über das multikulturelle Zusammenleben. Unser Land ist ein Mosaik von Türken, Kurden und Armeniern. In Kanada oder Norwegen leben die Menschen doch auch ohne Kämpfe und Auseinandersetzungen zusammen. Wir haben hier in der Türkei nur fünf Nationalitäten. Und immer gibt es Probleme. Wenn du hier sagst, dass du Armenier bist, dann wird man Dich immer fragen, wann Du in die Türkei gekommen bist und woher Du kommst. Manche fragen nicht nur, sie drohen auch. Es heißt neuerdings immer, wir seien alle gleich, wir leben hier alle zusammen - aber wir sind nicht alle gleich. Wir sind unterschiedlich. Wenn wir das anerkennen und miteinander sprechen können, dann werden wir ein demokratischeres Land.

Foto: Demo ©gecetreni/flickr; Aris Nalci ©Necat Nazaroğlu/ 100100 Project; Video: ©PressTV/Youtube

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