Hochwasserhosen für Václav Havel
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Am 18. Dezember 2011 starb Václav Havel. Sein Erbe bleibt in Tschechien umstritten. Zum ersten Todestag des Präsidenten, Schriftstellers und Dissidenten wollen sich nun Tausende zur Erinnerung an den Verstorbenen die Hosen hochkrempeln.
Die Szene blieb im Gedächtnis. Václav Havel, nur wenige Wochen zuvor aus dem kommunistischen Gefängnis entlassen, schreitet über den Innenhof der Prager Burg zur Amtseinführung als Präsident der Tschechoslowakei. Mit verschüchtertem Blick nimmt er die militärischen Ehren entgegen. Für Aufmerksamkeit aber sorgte vor allem ein Kleidungsstück: Havels Hose, deren Saum wider jeder Kleiderordnung über seinen Knöcheln baumelt. Die Tschechoslowaken lachten über ihren fehlbaren Präsidenten. Aus der Anekdote wurde Folklore.
Erklärungsversuche für den modischen Fauxpas machten die Runde: Es habe an Zeit gefehlt, einen ordentlichen Anzug zu schneidern. Im Gefängnis sei Havel so oft zum Zurechtmachen gemahnt worden, bis er sich aus Reflex ständig die Hosen hochzog. Oder, für Anhänger von Verschwörungstheorien: Kurze Hosen seien ein Zeichen der Freimaurer. Havel selbst nahm es mit Humor: „Ich muss sagen, dass ich meine Freude daran habe. Ich sage mir, dass das eine recht liebevolle Art ist, sich über meine Person lustig zu machen.“
Am heutigen Dienstag jährt sich der Todestag von Václav Havel zum ersten Mal. Doch wie gedenkt man jemandem, dessen Lebensrollen zwischen Autor absurden Theaters, Politiker und Dissident nicht unterschiedlicher hätten sein können?
Wer Havel in sich trägt, trägt kurz
Oldřich Neuberger fand die Antwort in Havels Hochwasserhosen. „Die meisten meiner Freunde und Bekannten haben sich gleich an die kurzen Hosen erinnert und gelacht“, sagt der Online-Unternehmer, der schnell eine Gruppe von Helfern für seine Idee begeistern konnte. Via Soziale Medien und Mund-zu-Mund-Propaganda wollen sie diejenigen, die „ein Stückchen Havel in sich tragen“ dazu bewegen, sich am 18. Dezember die Hosenbeine hochzukrempeln.
Václav Havels Europa: Hommage an einen Meister des Friedens
Etwa 6.500 Facebook-User sind momentan zum Event „Kurze Hosen für Havel“ angemeldet. Iva Ulmannová, eine der freiwilligen Organisatoren, rechnet aber mit deutlich größerer Beteiligung. Der 27-jährigen Rechtsanwältin gefällt vor allem eines am Havel-Dresscode: „Ein Vorteil ist, dass so jeder seines Havels gedenken kann. Die Geste schreibt nicht vor, dass man sich an die Amtseinführung, an den Präsident, den Schriftsteller oder den Dissidenten Havel erinnern muss. Wichtig ist der Humor, die informelle und menschliche Weise, mit der er dem Vorfall begegnet ist.“ Ulmannová freut sich darauf, dass sich Havel-Anhänger am Todestag gegenseitig an den Hochwasserhosen erkennen, Verbundenheit spüren und vielleicht sogar ins Gespräch über ihren Havel kommen.
Für die Leute hinter der Aktion „Kurze Hosen für Havel“ ist klar: der verstorbene Dichterpräsident ist Vorbild und ein Grund, stolz auf ihr Land zu sein. Auch im Ausland ist Havels Beitrag zur europäischen Einigung und seine moralische Integrität im unerschrockenen Kampf gegen das totalitäre tschechoslowakische Regime unumstritten. In Tschechien hingegen wird Havels Hinterlassenschaft oft zum Zankapfel. „Ihr werdet nicht glauben, wie viele Hass-Mails wir bekommen“, schreibt Neuberger in seinem Blog.
Gemeinschaftsgefühl wiederbeleben
Ivan Gabal, Soziologe und einstiger Havel-Berater, nennt einen Grund für die erhitzten Gemüter: „Die Frage nach dem Einfluss von Havel ist brandaktuell, sie ist mit der Debatte um die geopolitische Ausrichtung Tschechiens in Europa und der Welt verknüpft.“ Das erste Staatsoberhaupt der Tschechischen Republik verkörpere im Land selbst – im Gegensatz zum Havel-Bild im Ausland – mehr als den Dissens gegen das kommunistische Regime dessen Überwindung und die Neuorientierung Richtung Westen. „Gerade weil Havels Einfluss und Autorität lange unumstritten war, ist auch die tschechische Position zur europäischen Integration nicht eingehend diskutiert worden“, erklärt Gabal und bittet die westlichen Nachbarn um Geduld mit der andauernden Identitätssuche der Tschechen. Für die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft macht Gabal auch den jetzigen „Burg-Herren“ Václav Klaus verantwortlich.
Ihre Hoffnung setzen Gabal ebenso wie Ulmannová in das gemeinsame Gedenken an den verblichenen Dichterpräsidenten. Der Soziologe hofft, dass die Bevölkerung einen Weg findet, an jenes Gemeinschaftsgefühl anzuschließen, das der Tod Václav Havels vor einem Jahr hervorgerufen hat: Als im Schneegestöber tausende Kerzen den Wenzelsplatz erleuchteten. Als die Menschen geduldig in der eisigen Dezemberluft Schlange standen, um sich ein letztes Mal von ihrem „pan prezident“ zu verabschieden. Als Zehntausende respektvoll klatschten, während Havel zum letzten Mal das Tor der Prager Burg passierte.
An dieses Gefühl sollen die hochgekrempelten Hosen erinnern. Und daran, dass Václav Havel gerne über sich selbst lachte, dass er auch als Präsident immer Mensch blieb.
Artikel von Martin Nejezchleba
In Partnerschaft mit jádu, dem jungen deutsch-tschechischen Online-Magazin des Goethe-Instituts Prag.
Illustrationen: Mit freundlicher Genehmigung von ©denvaclavahavla.cz