Henri Malosse : "Die EU arbeitet ideologisch und technokratisch"
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Barbara BraunIn den Augen des Präsidenten des europäischen Wirtschafts- und Sozialrates, ist der Gründergeist der Europäische Union verloren gegangen. Für die bevorstehenden Europawahlen wünscht er sich ein Erwachen neuer pro-euopäischer Kräfte.
Cafebabel: Die europäischen Bürger haben immer mehr das Gefühl, dass Brüssel eine sehr weit entfernte Institution ist. Können Sie dem zustimmen?
Henri Malosse: Ja, die Europäische Union ist weit entfernt und autistisch. Sie sieht die wahren Prioritäten nicht und sie ist zu ideoligisch und technokratisch. Sie ist eine große Maschine, die ohne Kontrolle weiterläuft, wie ein Flugzeug ohne Pilot. Man bekommt den Eindruck einer Flucht nach vorne: man erweitert den Markt in Richtung der USA, man nimmt mit halbherzigen Reglementierungen Einfluss auf das tägliche Leben der Menschen und der Firmen, aber man nimmt sich nicht der wahren Themen an, wie etwa Arbeitslosigkeit, Sicherheit, Immigration, etc. ... Und das spühren die Menschen.
Cafebabel: Und das obwohl die Institutionen sehr auf Bürgernähe bedacht sind. Ich denke da an Viviane Redings Dialoge mit den Bürgern, an Broschüren und pädagogische Unterlagen...
Henri Malosse: Diesen Eindruck habe ich nicht. Frau Redings Dialoge mit den Bürgern haben nur gut informierte Leute erreicht. Und was diverse Publikationen betrifft: Glauben Sie, dass das Problem bei der Zahl der Broschüren liegt? Wir werden es kaum schaffen mit einer Vielzahl an gedruckten Seiten das Vertrauen wiederherzustellen.
Tatsache ist, dass Ergebnisse fehlen. Umfragen zeigen, dass das Misstrauen gegen die Institutionen immer größer wird. Also selbst wenn die Kommission wunderschöne Broschüren und ganz tolle Kolloquien macht, man trifft immer wieder dieselben Menschen, die sich bereits auskennen und schon überzeugt sind. Ich glaube eher, dass man das Vertrauen nur mit einer Vielzahl an konkreten Aktionen zurückgewinnen kann. Die Europäische Union muss zuerst Dinge in die Tat umsetzen und dann darüber berichten, und nicht umgekehrt.
"Wir haben das ziel europas aus den augen verloren"
Cafebabel: Sie rufen also zu schnelleren, konkreteren, vielleicht gezielteren Aktionen auf?
Henri Malosse: Ich rufe zu Aktionen mit echter Priorität auf, zu einer schnelleren, weniger bürokratischen Umsetzung. Aber die Bürger müssen auch das Gefühl haben, dass man ihnen zuhört. Die Kommission organisiert im Rahmen des Europäischen Jahres der Bürgerinnen und Bürger einige Veranstaltungen. Es handelt sich dabei aber eher um Monologe: ein Kommissar erklärt, was er macht, und dann haben die Leute eine halbe Stunde Zeit für Fragen. Die Bürger erwarten eher, dass man ihnen zuhört und dann auf ihre Bedürfnisse eingeht.
Cafebabel: Was sollen wir also machen ?
Henri Malosse: Ich fordere vor allem eine neue Systemordnung für Europa: die Lobbyisten haben in Brüssel viel zu viel Macht. Nehmen wir das Beispiel reproduzierbares Saatgut: die Europäische Kommission und der Gerichtshof scheinen seltsamer Weise nicht dafür zu sein. Sie unterstützen große Firmen wie Monsanto, die sich für ein System einsetzen, in welchem die Bauern jeden Monat Saatgut kaufen müssen. Hier sieht man ganz eindeutig den unerträglichen Einfluss der Lobbies auf die europäischen Institutionen.
Cafebabel: Glauben Sie, dass wir die ursprüngliche Idee Europas aus den Augen verloren haben?
Henri Malosse : Ja, ich glaube, dass wir das eigentliche Ziel Europas aus den Augen verloren haben. Es ist schwer zu sagen, wann genau das passiert ist. Ich würde sagen, so gegen Ende der 90er Jahre oder zu Beginn der Jahre nach dem Millenium. Für die Gründerväter ging es um ein gemeinsames Instrument zur Vereinigung der europäischen Kräfte. Unsere Volkswirtschaften, unsere sozialen Systeme, unsere Steuersysteme stehen in Konkurrenz zueinander. Jetzt steht Land gegen Land, Interesse gegen Interesse! Europa war bis 1945 ein militärisches Schlachtfeld, und heute machen wir daraus ein wirtschaftliches.
Cafebabel: Bald sind Europawahlen. Befürchten Sie den Durchbruch der Euro-skeptischen Parteien?
Henri Malosse: Ja, ich glaube, dass das nächste Parlament wesentlich weniger pro EU sein wird. Ich finde das sehr schade, aber ich glaube auch, dass dies der Elektroschock für alle jene sein wird, die glauben, alles wäre in Ordnung. Wenn man einmal das politische Angebot so betrachtet, merkt man schnell, dass es sehr dünn ist. Einerseits gibt es jene, die das Ende eines gemeinsamen Europas herbeiführen wollen, zurück zu reinen zwischenstaatlichen Beziehungen. Das geht bis zur Schließung der Grenzen und der Abschaffung von Schengen - dabei ist doch die Bewegungsfreiheit die Quintessenz Europas!
Dann gibt es einige Idealisten, die sich eine europäische Föderation wünschen, und zwar jetzt gleich! Aber man sieht eindeutig, dass die öffentliche Meinung in Europa noch nicht dafür bereit ist. Und letztlich gibt es die dritte Gruppe, die gar nichts bietet. Es ist die größte und gleichzeitig gefährlichste Gruppe. Ich würde sie bei vielen Ländern im Eck der traditionnellen Parteien ansiedeln. Sie boten bisher keine ernstzunehmende Vision, sondern nur Slogans: „Europa muss sich mehr um Wachstum kümmern", „wir brauchen mehr Budget", etc.
Cafebabel: Worauf können wir hoffen?
Henri Malosse: Ich hoffe, dass im Laufe des kommenden Wahlkampfes kritisch, aber positiv geführt wird. Kritisch, aber mit konkreten Vorschlägen zur steuerlichen und sozialen Konvergenz, mit konkreten Aktionen zugunsten der Jugend, der Arbeit und der Reindustrialisierung, etc. ... Ich glaube, das wäre eine glaubhafte Botschaft, mit der sich die Bürger identifizieren könnten.
Henri Malosse ist seit dem 17. April 2013 Präsident des europäischen Wirtschafts- und Sozialrates (CESE). Der 1954 geborene Franzose hat seine gesamte berufliche Laufbahn in Brüssel verbracht, wo er u.a. den Kreis der ständigen französischen Vertreter und das Netzwerk Euro-Info Zentren ins Leben gerufen hat. Seit 1998 ist er als Vorsitzender des Arbeitgebergruppe für den europäischen Wirtschafts- und Sozialrat tätig. Als Präsident möchte er nun aus dieser Institution "einen Ort der Begegnung der Bürger" machen, "an dem man die Wahrheit sagen kann, auch wenn man keine Entscheidungsgewalt hat".
Translated from Henri Malosse : « L'UE travaille de manière idéologique et technocratique »