Hemmungslose Deutsche: „Immer noch auf der Suche nach ihrer Identität“
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Ein Buch über Deutschland schreiben, in dem kein einziges Mal der Name „Hitler“ auftaucht? Der französische Journalist Sébastien Vannier hat das geschafft. Ein Gespräch über Schuldgefühle und den Blick nach vorn.
Cafébabel: Les Allemands décomplexés basiert auf einer Reihe von Interviews und Reportagen. Wie hast du die Gesprächspartner für die Interviews ausgewählt?
Sébastien Vannier: Es ging darum, Menschen zu finden, die die Vielfalt der deutschen Gesellschaft repräsentieren. Zum Beispiel der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff. Das Interview mit ihm ist das erste im Buch und das finde ich auch passend: Wallraff hat einen sehr kritischen Blick auf die deutsche Gesellschaft. Aber auch einen sehr liebevollen. Margot Käßmann, die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, fand ich ebenfalls interessant. Gerade in Frankreich ist man es nicht gewohnt, dass eine Frau die Hauptvertreterin einer Religion ist. Der Protestantismus ist dort außerdem nicht so wichtig.
Cafébabel: Was hast du während des Schreibens über die Deutschen gelernt?
Sébastien Vannier: Vor allem habe ich verschiedene Teile von Deutschland kennengelernt. Ich war zum Beispiel in Leipzig, Dortmund und Kiel – Deutschland hat eine unheimliche regionale Vielfalt! Als Korrespondent sehe ich sonst vor allem das politische Leben in Berlin. Zum Beispiel habe ich viel über die sogenannten Russlanddeutschen gelernt. Den Begriff kannte ich, aber nicht die dazugehörige Geschichte. Gleiches gilt für das lesbische Leben in Berlin: Klar weiß man, dass Berlin eine lebendige Homosexuellen-Kultur hat. Ich wollte aber eben nicht über Schwule sprechen, sondern über Lesben.
„Ich habe versucht, neue Aspekte zu finden“
Cafébabel: Es ging also darum, Klischees zu vermeiden?
Sébastien Vannier: Ich habe mich immer gefragt: Wie kann ich den Leser überraschen? Im Sport-Kapitel geht es deswegen nicht um Fußball – wie man erwarten würde – sondern um Handball. Im Französischen spricht man von einem contrepied.
Cafébabel: Man macht das Gegenteil von dem, was der andere erwartet.
Sébastien Vannier: Ja, das ist ein Begriff aus dem Sport: ein Täuschungsmanöver. Das habe ich zum Beispiel auch im Migrationskapitel gemacht: Statt über die Türken habe ich über die Russlanddeutschen geschrieben. Für das Kapitel über 'Zeitgenössische Kunst' war ich in Dortmund – ich fand das Prinzip, Industriegebäude kulturell zu nutzen, spannend.
Cafébabel: Die berühmte Industriekultur.
Sébastien Vannier: Genau! Dortmund war in dem Fall sogar ein doppeltes contrepied: Wenn man dorthin fährt, erwartet man Fußball. Und sicher keine Kultur! Also bin ich hingefahren. Natürlich ist es schwierig, etwas Neues über Deutschland zu schreiben. Aber ich habe versucht, Aspekte zu finden, die neu sind – und die viel über die deutsche Gesellschaft sagen.
Cafébabel: Zum Beispiel?
Sébastien Vannier: Es gab in Frankreich eine Riesendiskussion über das deutsche Wirtschaftsmodell: le modèle économique allemand. Dabei sieht es auch in Deutschland nicht nur rosig aus. Für das Buch habe ich deshalb in beide Richtungen recherchiert: In Eichstätt, in Baden-Württemberg, läuft alles gut, es gibt kaum Arbeitslosigkeit – das bedeutet andererseits aber Fachkräftemangel. Dann habe ich noch eine Reportage über Obdachlose in Hamburg gemacht: Die Situation dort wird für die Obdachlosen immer kritischer und schwieriger. Das gehört aber nicht zu dem Bild, welches man in Frankreich von Deutschland hat. Mir war es wichtig, verschiedene Menschen mit verschiedenen Hintergründen zu Wort kommen zu lassen, statt nur über mein eigenes Erleben als Franzose in Deutschland zu sprechen. Ich trete einen Schritt zurück: Die Leser müssen sich ihre Meinung selbst bilden.
Cafébabel: Du lebst nun schon seit zehn Jahren in Deutschland, acht davon hast du in Berlin verbracht. Gibt es überhaupt noch etwas, was dich an den Deutschen überrascht?
Sébastien Vannier: Mein Buch heißt ja nicht umsonst Les Allemands décomplexés. Ich glaube wirklich, dass sich die deutsche Identität verändert. Den Begriff décomplexé verbindet man sowohl in Frankreich als auch in Deutschland spontan noch mit diesem Schuldgefühl des Kriegs. In meinem Buch taucht aber tatsächlich kein einziges Mal der Name „Hitler“ auf. Das passt zum Titel: Man darf jetzt ein Buch über Deutschland schreiben, ohne dass man ständig Hitler erwähnen muss. Was mich an den Deutschen überrascht ist, dass sie immer noch auf der Suche nach ihrer Identität sind. Nationale Identität ist in Deutschland natürlich ein heikles Thema. Aber ich habe in den letzten Jahren erlebt, dass die junge Generation damit viel entspannter umgeht. Klar, die Jungen müssen trotzdem wissen, was passiert ist – aber es ist Zeit, auch nach vorne zu schauen. Und diese Veränderung kriegt man auch im Ausland mit.
Cafébabel: Wie genau hat sich das Selbstgefühl der Deutschen denn geändert?
Sébastien Vannier: Für ältere Generationen hatte die Vergangenheit noch viel mehr Gewicht. So ganz weg ist das Schuldgefühl natürlich noch nicht. Ich erinnere mich an die Titelseite der B.Z. Anfang des Jahres anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Befreiung von Auschwitz: Man sah ein Bild von Auschwitz und daneben die Zeile „Das ist Deutschland“. Das hat mich erstaunt. Klar ist das Erinnern äußerst wichtig, aber ich wollte ein anderes Bild von Deutschland zeigen.
Cafébabel: Momentan ist Deutschland vor allem mächtig: Es wird viel über die deutsche Dominanz in Europa gesprochen.
Sébastien Vannier: Es ist klar, dass Deutschland den Kontinent nicht alleine führen wird. Deswegen spielt Frankreich eine wichtige Rolle: Deutschland braucht Frankreich!
Cafébabel: Frankreich und Deutschland galten immer als „Tandem“, als der europäische „Motor“. Frankreich geht es wirtschaftlich aber nicht gut, viele Reformen wurden verschleppt. Was bedeutet das für die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen?
Sébastien Vannier: Frankreich hat wirtschaftlich eindeutig keine Führungsrolle, Deutschland schon. Frankreich und Deutschland befinden sich gerade auf ganz unterschiedlichen Niveaus. Aber ich glaube, Deutschland sieht Frankreich trotzdem als wichtigen politischen und auch historischen Partner. Deutschland kann und will wegen seiner Geschichte nicht als alleiniger Herrscher erscheinen. Demensprechend vorsichtig agiert Deutschland – für Deutsche ist unheimlich wichtig, wie sie im Ausland wahrgenommen werden.
„Manchmal vermisse ich in Deutschland den französischen Humor“
Cafébabel: Wie wird es mit den deutsch-französischen Beziehungen weitergehen?
Sébastien Vannier: Naja, da gibt es immer Höhen und Tiefen. Deutschland und Frankreich brauchen sich gegenseitig. Es ist klar, dass wir uns gerade in einer Situation befinden, in der es ein Ungleichgewicht gibt. Das kann sich aber schnell ändern. Dass Deutschland in der Beziehung gerade mehr Macht hat, ist relativ neu – das darf man nicht vergessen. Trotzdem gibt es in Europa einfach niemanden, mit dem Deutschland so gut zusammenarbeiten kann wie mit Frankreich.
Cafébabel: Was vermisst du an Frankreich am meisten?
Sébastien Vannier: Baguette und Käse natürlich (lacht)! Nein, auch hier versuche ich, Klischees zu vermeiden. Abgesehen von meiner Familie und Freunden: Manchmal vermisse ich den französischen Humor. Ich will nicht sagen, dass die Deutschen keinen Humor haben – bei meiner Reportage über Poetry Slam habe ich sehr lustige Momente erlebt. Aber ich bin groß geworden mit den Filmen von Alain Chabat, mit den Sketchen von Jamel Debouzze oder Gad Elmaleh, mit dem Humor von Coluche, Desproges oder Devos. Ich liebe, wie man mit der französischen Sprache spielen kann. Humor ist sehr stark mit der Kultur verbunden. Und in dem Bereich bleibe ich eindeutig Franzose.