Hello Crisis: Und wo liegt deine zweite Heimat?
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Was bedeutet Heimat für einen griechischen Gärtner in Berlin? Und wie lange hält es eine Spanierin in Deutschland aus? Der deutsch-chilenische Fotograf Jean-Paul Pastor Guzmán hat mit hello crisis! (2012) den Second Home Photography Contest gewonnen. Im Interview spricht er über die Wirtschaftskrise, dynamische Lebensläufe und Heimatgefühle.
Wer Jean-Paul Pastor Guzmán nach seiner Heimat fragt, muss sich auf mehrere Antworten gefasst machen: „Wenn ich in Berlin bin, würde ich vielleicht Buenos Aires antworten. Aber wenn ich durch Argentinien reise, würde ich eher Deutschland sagen, schließlich bin ich ja hier aufgewachsen und kulturell geprägt worden.“ Dank eines Vaters, der mit 20 Jahren aus Chile nach Deutschland kam, und einer Mutter, die in ihrer Jugend den französischen Schauspieler Jean-Paul Belmondo verehrte, sitzt Jean-Paul schon seit Geburt zwischen allen geografischen Stühlen. Nach dem Abitur zog es ihn erst einmal nach Buenos Aires, wo er während seines anschließenden Studiums in Kommunikationsdesign an der FH Aachen auch noch ein Auslandssemester absolvierte. Seit knapp einem Jahr arbeitet Jean-Paul nun in Berlin als Fotoassistent und hat auch erst einmal vor zu bleiben.
Kuckucksuhren und Omas Teegeschirr: Was ist Heimat?
„Der Begriff ‚Heimat‘ klingt im Deutschen schon etwas altertümlich, da denkt man sofort an Heimatkunde, Kuckucksuhren und Omas Teegeschirr.“ Jean-Paul lacht, während er nach einer annehmbaren Definition des englischen Begriffs home sucht. „Die Heimat ist ja eigentlich der Ort, an dem man sich wohl und sicher fühlt. Da geht es um Erinnerungen, Gefühle, emotionale Bindungen.“ Deswegen sei seine eigene Heimat zum einen Aachen, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht habe. Aber auch Buenos Aires, wo er neue Erfahrungen gemacht und tolle Menschen getroffen habe. Dass nicht alle so frei sind in ihrer Wahl einer zweiten Heimat, ist Jean-Paul sehr wohl bewusst: „In meiner Arbeit hello crisis!, mit der ich mein Bachelorstudium in Aachen abgeschlossen habe, ging es mir ausschließlich um junge europäische Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Heimatland verlassen. Also die Griechen, Spanier und Italiener, die in den letzten Jahren in Berlin ihr Glück gesucht haben.“
Auf die Idee zu seiner Fotoarbeit hatte ihn eine spanische Freundin gebracht, die auf der Suche nach besseren Perspektiven nach Deutschland gekommen war. „In Berlin sitzt man da quasi an der Quelle, denn hier gibt es ja sehr viele Südeuropäer und Latinos.“ Über Facebook-Gruppen wie Italiani a Berlino (Italiener in Berlin; AdR), das Movimiento 15-M, Sprachschulen in Kreuzberg und Bekannte suchte Jean-Paul mehrere Monate lang nach jungen Menschen, die von sich erzählen und sich in ihren Wohnungen fotografieren lassen wollten: „Insgesamt habe ich so fünf Spanier, drei Italiener und zwei Griechen porträtiert. Mir war es dabei wichtig, den Bildern eine persönliche, auch textuelle Dimension zu geben und nicht nur anonyme, junge Gesichter der Krise zu zeigen. Deswegen habe ich Dimitris, Lucía und die anderen auch in ihrem normalen Umfeld porträtiert und meine Fotos durch lange Interviews ergänzt.“
Deutschland als Zwischenstopp: Mobilität ohne Ziel?
Denn trotz vieler Gemeinsamkeiten sind die Lebensläufe junger europäischer Wirtschaftsmigranten grundlegend verschieden. Dimitris beispielsweise hat in Griechenland Gartenbau gelernt und ist als prekärer „Glückssucher“ nach Deutschland gekommen. Mittlerweile arbeitet er in einer Berliner Gärtnerei. Fátima hingegen hat in Spanien ein Journalistikstudium beendet und überbrückt nun die Wartezeit mit Praktika in Deutschland. Jean-Paul ging es bei seiner Arbeit um realistische Einschätzungen: „Ich wollte diese Lebenssituationen so unverfälscht wie möglich abbilden, deswegen habe ich einen eher dokumentarischen Stil gewählt. Also nur Tageslicht, persönliche Gegenstände, kaum Inszenierung.“ Einige der Porträtieren sind mittlerweile schon gar nicht mehr in Berlin: „Manche sind schon weiter nach Polen, Tansania oder Portugal. Für die war Deutschland nur ein Zwischenstopp. Deswegen fände ich es interessant, sie alle in einem Jahr noch einmal zu treffen und ihre neuen Aufenthaltsorte zu dokumentieren. Das wäre sicher ein eindrückliches Beispiel für die neue Mobilität des 21. Jahrhunderts.“ Trotzdem dürfe man das nicht mit Erasmus und ähnlichen Programmen verwechseln, schließlich handele es sich dabei um ganz andere Arten von Migration.
Die einen sind auf der Suche nach Spaß und ziehen nach Barcelona. Die anderen brauchen einen Job und erwählen Berlin. Die Beweggründe mögen unterschiedlich sein, das politische und institutionelle Rahmengerüst hingegen ist das gleiche: In Zeiten immer größerer europäischer Freizügigkeiten, von Billigfliegern und Breitbandinternet verschwimmen geografische Grenzen für fast jedermann. Zum first home kommt so das ambivalente second home hinzu, das dem Fotowettbewerb von Cafebabel Berlin seinen Namen gegeben hat. Jean-Paul sieht das eigentlich positiv: „Es ist ja schon ganz normal, mal schnell ins Flugzeug nach Paris zu steigen oder mit der Liebe in Madrid zu skypen. Und es spricht auch gar nicht dagegen, zwei Heimatorte zu haben.“ Doch trotz einer immer stärkeren geografischen Aufsplitterung von Identitäten lasse sich auch das Gegenteil feststellen.
„In Buenos Aires ist mir aufgefallen, dass sich viele Argentinier, Chilenen und andere Südamerikaner ganz einfach als Latinos bezeichnen. Das ist Ausdruck eines gewissen Kontinentalstolzes, der natürlich auch im Kolonialismus und der Unterdrückung durch den Westen wurzelt.“ Vielleicht geschähe ja in Europa, trotz unterschiedlicher historischer und politischer Prämissen, momentan etwas ähnliches: „Bezeichnen wir uns vielleicht bald nur noch als Europäer?“ Jean-Paul erscheint das nicht unmöglich. Sollte er selbst sich eine neue zweite Heimat suchen, dann fiele ihm das sicher nicht so leicht. „Natürlich mag ich Buenos Aires sehr, aber für immer dort leben? Das kann ich mir nicht so recht vorstellen.“ Auch Aachen ist ihm mittlerweile zu langweilig geworden. Dann bleibt wohl nur noch Berlin? „Momentan wohl ja. Hier bin ich wirklich angekommen, mit Kopf und Herz.“ Die emotionale Bindung ist also schon einmal da. Und wenn Jean-Paul dann doch einmal Heimweh nach Buenos Aires hat, gibt es in der „internationalen Blase“ Berlin garantiert genug Latinos, um einen Abend lang Spanisch zu sprechen.