Hassaan bin Shaheen: "Europa muss sich für seine Werte einsetzen"
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Lilian PithanUnter den Diskussionsteilnehmern von "A Dispute over Europe" am 2. Mai 2014 waren nicht nur europäische Schwergewichte. Im Panel "The Idea of Europe - Next Generation" diskutierten fünf junge Studenten, Journalisten und Philosophen darüber, was Europa heute ist oder sein sollte. Einer von ihnen war Hassaan bin Shaheen, Aktivist und Jurastudent aus Pakistan
Was bedeutet es, seine Meinung frei äußern zu können, kaum Visumsbestimmungen zu unterliegen und das Recht zu haben, genau das Leben zu leben, das einem gefällt? Als Pakistani an der University of London kann Hassaan bin Shaheen den Europäern so einiges erzählen über die unglaublichen Freiheiten, die sie genießen - und die sie doch so oft zu vergessen scheinen. Hassaan, der als politischer und juristischer Berater arbeitet, ist an mehreren politischen Forschungsprojekten beteiligt und hat einen Debattierclub in Karachi gegründet.
Cafébabel: Hassaan, du behauptest, dass Europäer auf einer Goldader sitzen, ohne es zu bemerken. Was meinst du damit?
Hassaan Bin Shaheen: Ich komme aus Pakistan und das bedeutet, dass es auf der ganzen Welt nur sechs Länder gibt, in die ich ohne Visum reisen kann. Selbst wenn ich innerhalb dieser sechs Länder bleibe, wird man mir viele Fragen stellen. Die Mobilität, die ihr in Europa genießt, und die damit verbundene Möglichkeit, unterschiedliche Menschen zu treffen und nicht begrenzt zu sein in den eigenen Potentialen, sind außergewöhnlich. Europäer haben die Freiheit, ihre Identität und Zukunft genauso zu gestalten, wie sie wollen. Trotzdem gibt es hier so viele Leute, die das kritisieren oder sich beschweren. Das mag zwar für die Entwicklung Europas wichtig sein, aber man sollte auch nicht vergessen, dass andere Menschen - wie zum Beispiel ich - diese Freiheiten nicht haben.
Cafébabel: Warum sind sich junge Europäer dieser Freiheit so selten bewusst?
Hassaan bin Shaheen: Ich denke, das liegt einfach daran, dass der Vergleich fehlt. Ich will ja, dass ihr Europäer es einfach habt, aber im Vergleich zu den Kämpfen, die Jugendliche in Pakistan und Indien auszufechten haben, sind die Probleme der europäischen Jugend bei Weitem weniger extrem. Europäer scheinen oft nicht zu wissen, dass Menschen in anderen Erdteilen für diese Freiheiten kämpfen und manchmal sogar sterben würden.
Cafébabel: Sollte Europa in Bezug auf diese "Freiheitskämpfe" häufger eine Vorbildfunktion annehmen und sich verbindlicher engagieren?
Hassaan bin Shaheen: Ich persönlich bin total dafür, aber meine Ansichten sind natürlich nicht die der meisten Pakistanis. Die würden das eher für eine Form von Imperialismus halten. Trotzdem gibt es andere, nicht-imperialistische Wege, sich zu engagieren. Man muss nicht aktiv eingreifen, sondern kann auch Partnerschaften oder Kooperationen mit Regierungsorganisationen vor Ort eingehen, Entwicklungshilfe oder Investitionen aus dem Ausland in bestimmte Länder leiten. Ich finde, dass Europa sich in diesem Bereich mehr einsetzen sollte. Ihr habt lang genug für das gekämpft, was ihr jetzt habt. Wenn die Kräfte des Bösen dich direkt angreifen, gibt es keinen Grund, sich auf dem Rücksitz zu verstecken.
Cafébabel: Du bist einer der Gründer von "The Debating Circuit". Leidet die pakistanische Jugend ebenso wie die europäische an politischer Apathie und fehlender Engagementbereitschaft?
Hassaan bin Shaheen: Ich glaube, Jugendliche auf der ganzen Welt sind ziemlich apathisch. Während meines Studiums an der University of London habe ich tolle Leute getroffen, die sich sehr aktiv für die Dinge eingesetzt haben, die ihnen wichtig waren. Aber es gab natürlich genauso viele, die einfach nur Spaß haben wollten. Das gleiche gilt für Pakistan. In Europa ist es aber leichter, Veränderungen herbeizuführen, weil man hier schnell die sofortigen Auswirkungen sehen kann. In Pakistan braucht es mehr Anstrengung und dauert viel länger, Veränderungen durchzusetzen.
Cafébabel: Was hat dich auf die Idee gebracht, einen Debattierclub zu gründen?
Hassaan bin Shaheen: Die Idee entstammt der britischen Tradition des parlamentarischen Debattierens, das in Pakistan sehr beliebt ist. Als ich angefangen habe, war ich sehr schlecht, aber mein Freund Ehab Ansari konnte das viel besser. Unsere Universitäten haben das Projekt nicht wirklich unterstützt, deswegen haben wir beschlossen, die Sache allein durchzuziehen. Zuerst haben wir im Second Floor Café (t2f) von Sabeen Mahmud einen Ort für unsere Treffen gefunden, dann habe ich in Karachi herumtelefoniert - die übliche Vertretermasche also. Am Ende wollten eine Menge Leute mitmachen. Seit der Gründung des Debating Circuit im September 2012 haben wir über 35 Übungssessions organisiert und Workshops in Bevölkerungsgruppen durchgeführt, die von Extremisten gezielt benutzt werden. Wir haben das Debattieren benutzt, um ihnen kritisches Denken beizubringen. Mein persönliches Ziel ist es, diese Arbeit Vollzeit zu machen.
Cafébabel: Die Diskussionsrunden beim "Dispute over Europe" wurden alle von Männern dominiert. Wie viele Mädchen machen beim "Debating Circuit" mit?
Hassaan bin Shaheen: Der Prozentsatz ist natürlich sehr niedrig, aber Frauen sind definitiv dabei, stärker zu werden. Um ehrlich zu sein, reden wir im Westen immer davon, dass die goldene Ära des Feminismus vorbei und das Patriarchat tot sei. Ich glaube aber, dass das Patriarchat noch sehr lebendig ist - in Pakistan natürlich noch viel mehr! Aber wir lesen eure Literatur, sehen eure Filme, kommen in Kontakt mit euren Werten. Die Dinge ändern sich, wenn auch langsam. Auch in diesem Fall gilt, dass der Westen eine aktivere Rolle annehmen und seine Werte verteidigen sollte.
Cafébabel: Du sagst, dass es nicht genug sei zu reden, sondern man auch handeln müsse. Sind Europäer vielleicht zu gut im Reden?
Hassaan bin Shaheen: Das gilt wahrscheinlich für jedes Land auf dieser Welt, Europa ist in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Eines der größten Probleme in Pakistan ist es, dass alle so gut im Reden sind! Aber im Westen erkenne ich eine Art Besessenheit, wenn es darum geht, eine allgemeine Öffentlichkeit zu schaffen und den Diskurs zu fördern. Es stimmt, Diskussionen sind wichtig, aber sie müssen auch zu etwas führen. Europa ist allen anderen Meilen voraus, wenn es darum geht zu diskutieren, aber es sollte auch eine aktive Rolle einnehmen, wenn es darum geht, diese Diskussionen in konkretes Handeln umzusetzen. Ich klinge fast wie ein Marxist, wenn ich sage, dass wir die Welt verändern müssen! (lacht) Aber der Punkt ist doch, dass wir wirklich die Welt verändern müssen und dass bloßes Reden im Endeffekt wirklich zu einfach ist.
CAFÉBABEL BERLIN STREITET ÜBER EUROPA
Cafébabel Berlin ist offizieller Medienpartner von A Dispute over Europe. Ab dem 2. Mai 2014 könnt ihr hier Interessantes vom Kongress und Interviews mit den Panelteilnehmern lesen. Mehr Updates gibt es auf Facebook und Twitter.
Translated from Hassaan bin Shaheen: "Europe could definitely step it up a bit"