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Grenzwertig? Kunst auf der Waagschale

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Katha Kloss

Kultur

Wie weit kann Kunst gehen? Welche Tabus bleiben uns noch? Häufig fasziniert Kunst und ekelt zugleich an - ein Versuch der Eingrenzung.

Die seidig schimmernden Seifenblasen der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles, die 2004 im Frankfurter Museum für Moderne Kunst umhersegelten, bis sie an den gaffenden Zuschauern zerplatzten, waren keine gewöhnlichen Seifenblasen. Sie entstanden aus Wasser, mit dem in Leichenhäusern vorher Kadaver gewaschen wurden. Der Kenner staunt, der Kritiker raunt. Ethik pathetisch! Befremdend! Der Drahtseilakt zwischen Kunst und Pathologie stößt sich an einem der letzten Tabus der Kunstproduktion: dem Tod. Ekel und Faszination werden am eigenen Leib spürbar.

(Foto: ©Sebastiano Pitruzzello/flickr))

Im Oktober 2007 lässt Visionär Guillermo Vargas aus Costarica einen ausgemergelten Hund angekettet in einer Galerie verhungern. Er habe zeigen wollen, dass der Hund erst als Kunstobjekt in den Fokus rücke. Auf der Straße hätte ihn keine Menschenseele beachtet. Der Hund sei heute lebendiger als je zuvor, da er in den Köpfen existiere. Tierschützer gingen augenblicklich auf die Barrikaden.

Die Kunst stößt sich an ihren 'Grenzen' wund

In der Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des neuen Jahrtausends wird gepisst, gepixelt, vor laufender Kamera masturbiert, mit Blut hantiert und der Tod in seine Grenzen gewiesen. Die moderne Kunstproduktion bewegt sich an der Schneidelinie zu Anatomie, Pornographie, IT oder Pathologie. Nicht selten werden diese Grenzen im Namen der Kunst verwischt, überschritten. Neue Medien ermöglichen zugleich neue Formen der Kunst. Entfremdung heißt das Zauberwort: Und was es noch schwieriger macht: Kunst kann heute in einer simplen Idee bestehen. Sie ist nicht zwingend von der Form abhängig.

Wer meint zu glauben, die Überschreitung von ethischen Grenzen und Tabus sei der Kunst schon immer eigen gewesen, der irrt. Carole Talon-Hugon, Professorin für Kunstphilosophie an der Universität von Nizza und Autorin des Buches Goût et dégoût: L’art peut-il tout montrer? (Geschmack und Ekel: Darf Kunst alles zeigen?) dementiert: "Dass die Kunst sich von jeher widersetzt hat, ist ein eingefahrenes Denkschema. Man hat zunächst einmal malerische Grenzen und Darstellungstechniken überschritten. Die massive Überschreitung moralischer Richtlinien siedelt sich definitiv erst im 20. Jahrhundert an."

Hermann Nitsch, Günter Brus und Otto Muehl - die so genannten Wiener Aktionisten hatten es bereits in den Sechzigern vorgemacht: Während der so genannten Uni-Ferkelei 1968 wurden der schockierten Öffentlichkeit allerlei körpereigene Säfte, Exkremente und Gewalt vor Augen geführt. Der in Formaldehyd eingelegte Haifisch des Engländers Damien Hirst von 1991 verursacht heute allenfalls noch Gähnen. Heute werden Menschen plastiniert und ausgestellt, werden um der Kunst Willen Kinder in Galerien geboren oder tote Kühe aus Hubschraubern geworfen. Die Kunst muss raus - zu neuen Ufern aufbrechen - Grenzen sprengen und so einmal mehr über sich selbst hinauswachsen.

Kunst und Ethik: Reibereien

"Was mir besonders interessant erscheint", fährt Talon-Hugon fort, "ist die Reaktion der beanstandeten Künstler auf die Kritik im Namen der Ethik". Einige würden mit der typischen Floskel der 'allgemeinen Grenzenlosigkeit und Straffreiheit von Kunst' argumentieren, während Andere zu verstehen geben: "Was ich hier mache, ist viel moralischer als sie denken." In diesem Sinne würden mit der neuen Bewegung der 'Bio-Arts' Zellen aus dem eigenen Körper entnommen, zu Steaks herangezüchtet und anschließend verspeist. Der brasilianische Künstler Eduardo Kac hat einem Kaninchen Zellen einer Qualle injiziert: Resultat: das in Frankreich geborene Tier leuchtete anschließend grün. Der Künstler habe mit dieser Aktion zeigen wollen, "dass wir lernen müssten, mit anderen zusammenzuleben", so Talon-Hugon. "Das nenne ich Berufung auf eine Art Übermoral: sich gegen den Vorwurf der Sittenlosigkeit zu verteidigen, indem man die Moral überbietet!"

Das Wesen der Kunst liegt heute in der ständig wachsenden Radikalität, im Zwang zur Grenzüberschreitung. "Die Kunst hat ein Imperium erobert. Sie hat eine nie zuvor gekannte Autonomie erreicht: die Möglichkeit, alle Möglichkeiten zu haben", so Talon-Hugon. Joseph Beuys - einer der ersten Künstler, die sich des Werkstoffes Fett annahmen - stellte die Theorie auf, dass "jeder Mensch ein Künstler" sei. Der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen bezeichnete gar die Attentate des 11. September als einen Augenblick der Kunst. Vielleicht sollten wir aufhören, nach Grenzen zu suchen und uns lieber fragen: was ist eigentlich nicht Kunst?

Diskutieren Sie die Grenzen der Kunst mit anderen Europäern in unserem Babelforum!

Carole Talon-Hugon: Goût et dégoût. L'art peut-il tout montrer?, Ed. Jacqueline Chambon, 2003.

(Intext-Fotos: Seifenblasen ©Sebastiano Pitruzzello/flickr; Hirst ©susemueller/flickr; Flatz ©flatz.net; Eduardo Kac ©C!b0rg5/flickr; Joseph Beuys ©GALERIEopWEG/flickr)

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