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Gottes vergessene Waisen: Das Leben nach Tschernobyl

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GesellschaftTurin

Leben ohne Schuhe, Weizenfelder, Slawisches Lächeln und Mittelmeer-Tränen zwischen den Scherben eines vergessenen Europas. Ein Bericht über zwei Wochen Freiwilligendienst im Südosten Weißrusslands. (Erster Teil)

Tschernobyl ist die Hölle. Ich bin fünf Jahre und einen Monat nach dem 26. April 1986 geboren. Im sauberen Teil der Welt. Aber wenn ich dieses Wort höre, schießen mir apokalyptische Bilder durch den Kopf und vermischen sich mit einem Schwall gedanklicher Assoziationen: „Katastrophe“, „Verstrahlung“, „Tumore“, „Krankheiten“. Ein helles Wort – das ich liebe und das eine große Bedeutung für meinen Zugang zur Kunst, zum Studium und zu den Menschen hat – gerät in seiner Mehrdeutigkeit aus dem Gleichgewicht, dreht sich und entblößt seine grausame Seite. „Verseucht“.

Der Krieg ist zu Ende

Erzählungen, Bücher, Zeitungsartikel und Filmreportagen zeichnen eine Welt, die ich nicht erlebt habe und errichten ein gespenstisches Mosaik der Atomkatastrophe von Tschernobyl. Das Böse, dunkel und süßlich, streifte durch Wälder und über Felder und schwirrte durch die Luft. Unaufhaltsam. An welchen Orten das Böse wohnen sollte, entschieden das Wetter, die Winde, der Regen. Nicht der Mensch. Dieses Böse trug keine Uniform und hatte keinen Willen. Es folgte weder Befehlen noch Ideologien. Es drang einfach in dich ein, sagten die Experten, auf mysteriöse Art und Weise. Es war im Gemüse, im Wasser, in den Pflanzen und Tieren. Und einmal dort drinnen, war es der unbezwingliche Herr, es konnte tun, was es wollte, Gene verändern und Tumore verursachen.

1986 war die Welt da draußen noch durch den Kalten Krieg geteilt. Aber für ein paar Tage schien sie eins zu sein, vereint in derselben Angst, gezwungen aus derselben Quelle des Schreckens zu trinken. Die Welt erwachte eines Morgens und war sich ihrer Globalisierung zum ersten Mal wirklich bewusst. Grenzen dienen nur dazu, Staaten zu erfinden und Menschen aufzuhalten. Die Strahlung hingegen kennt keine Grenzen und passiert sie unbeschadet.

Wenn also ein Atomkraftwerk explodiert, sind es die Nachbarn des Reaktors, die den größten Preis zahlen, diejenigen, die nicht einmal Zeit für das NIMBY-Syndrom hatten (Not in my back yard). Hier beginnt meine Geschichte: ein Bericht über zwei Wochen in Yurovichy, im Südosten Weißrusslands, Region Homel, Bezirk Kalinchovicy. 230 Kilometer von Tschernobyl entfernt und 2.238 Kilometer dicht gedrängt in einem Bus, wie Migranten, nur in die andere Richtung.

Hier und dort

Die Nachbarn Tschernobyls sind die südlichen Regionen Weißrusslands. Genau in dieser Gegend engagiert sich seit 15 Jahren der Verein Comitato Girotondo aus dem kleinen piemontesischen Ort Gassino Torinese für betroffene Kinder und Familien. Zu den Schäden, die die Verseuchung angerichtet hat, kommen hier die Armut der Bauern und die Politik des autoritären Regimes (Präsident Lukaschenko ruht sich seit 1994 auf über 70 Prozent der Stimmen aus). Selten ertönt ein westliches Echo (meistens Eminem oder Skrillex) aus den Holzhäusern.

Der Verein Comitato Girotondo fördert zwei verschiedene Initiativen. Zum einen organisiert er für weißrussische Grundschüler einen Aufenthalt in Italien für ein paar Monate im Frühling. Trotz der relativ kurzen Dauer können die Kinder dadurch 40 bis 60 Prozent der aufgenommen Strahlung abbauen. Zum anderen organisiert der Verein ein zweiwöchiges Sommer-Camp in Weißrussland, das italienischen Jugendlichen die Möglichkeit bietet, die Situation vor Ort mit eigenen Augen zu sehen. Gleichzeitig dient es als willkommene Ablenkung für die jungen Weißrussen. Dieses Jahr ging dem Summer Camp ein interkultureller Workshop voraus. Die Interkulturalität wird im Camp jeden Tag gelebt. Hier erfährt man wirkliche Unterschiede, die sozialen und kulturellen Hintergründe werden sichtbar, fordern sich heraus, nähern sich an. Auch sie werden unvermeidlich kontaminiert.

Christus kam nicht bis nach Yurovichy

Weißrussland ist wie ein Handtuch, das man auf dem Sand ausbreitet: Es gibt einige kleine Erhebungen, aber ansonsten ist es überall flach. Keine Spur von Meer oder Küsten, das antike westliche Ruthenien hat keinen Zugang zur Ostsee. Es gibt nur die großen, befahrbaren Wasserstraßen, allen voran der „Prinz“ Dnepr (2.201 Kilometer lang, ein Drittel davon auf weißrussischem Gebiet). Dichte, grüne Wälder, die nur von kleinen Provinzstraßen durchdrungen werden, wechseln sich mit eintönigen Weizen- und Kartoffelfeldern ab. Manchmal, fast wie aus Versehen, tauchen kleine bewohnte Ortschaften auf, melancholische Spuren menschlichen Lebens.

Yurovichy ist eine dieser Ortschaften. Viele der Häuser leuchten in kräftigen Farben. Sie verleugnen die grauen Jahrzehnte Breschnews und rebellieren lautlos. Der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens spielt sich auf wenigen Quadratmetern ab. Die Hauptkreuzung wird von einer jubelnden Lenin-Statue bewacht, die vor dem Rathaus und dem Dom Kulturi, einer Art Gemeindezentrum steht. Auf der anderen Seite zeichnet sich das Magazyn ab, wo es alles Wichtige zu kaufen gibt (was es dort nicht gibt, ist es auch nicht wichtig) sowie das Krankenhaus, aus dessen Fenstern ältere Menschen schauen und daran erinnern, dass es gleichzeitig auch ein Altersheim ist.

Hinter dem Magazyn befindet sich ein kleines Lokal mit einem Billiardtisch, wo die Töchter des Inhabers Bier in den Kühlschrank stellen und Kartoffelchips mit Knoblauch und Wodka auf dem Tresen platzieren: das ist die Dorfkneipe, die jeden Tag bis 22 Uhr geöffnet ist. Am Wochenende macht sie „lange Nacht“ und schließt um 24 Uhr.

Wenige Meter weiter stoßen wir auf die Schule, das Zentrum des Gemeinschaftslebens: drinnen der große Speisesaal mit einer Bühne, draußen die klapprigen Bänke, auf denen Jugendliche mit gebräunten Oberkörpern bei russischem Rap rauchen und Selfies machen. Weiter hinten, zwischen hohem Gras und Sträuchern lassen sich zwei Tore erkennen, die Überreste eines Fußballplatzes. Ein kleines Hotel im schroffen sowjetischen Stil und ein orthodoxes Kloster zeichnen sich gegen die Hügel ab und erheben diesen Ort in den Rang einer Kleinstadt, im Vergleich zu den umliegenden Dörfern.

Im Sommer dient die Schule zwei Wochen lang auch als Quartier für die italienischen Gäste. Wir schlafen in den Klassenräumen, spielen im Garten und in den Fluren, essen und veranstalten Aktivitäten im Speisesaal. Könnt ihr euch die Reaktion auf eine Gruppe Australier in einer italienischen Kleinstadt in den fünfziger Jahren vorstellen? Die Neugierde, Wärme und das Staunen, das uns entgegen gebracht wird, ist ungefähr genau so.

Es war einmal und ist noch immer

Es ist unsichtbar und nicht fassbar und doch ist das Böse allgegenwärtig. Wie Schnee, der den Frühling nicht fürchtet, legt es sich auf alles, die Nadelbäume und die Blicke. Die Stimmung der Einheimischen verdüstert sich, wenn die „Verdammung von Tschernobyl“ erwähnt wird. Sie strahlen eine stoische Resignation gegenüber diesem tödlichen Verhängnis aus, gegen das sie sich nicht auflehnen können. Vielleicht spüren sie nicht einmal mehr Wut. Sie wissen wenig darüber, aber es ist genug, um nicht mehr an die diplomatische Empörung der Ausländer und der Mächtigen zu glauben. In unseren Augen mag es erscheinen, als ob sie sich fast schämten für ein Stigma, das sie gezeichnet hat. In der Zukunft wird jeder seine fünfzehn Minuten Katastrophe haben: die kurze Zeit, die der Westen ein wenig Aufmerksamkeit für sie übrig hatte, war auf die Atomkatastrophe gerichtet. „Weißrussland“ wurde mit „kranken Kindern“ gleichgesetzt.

Die Weißrussen sind daran gewöhnt, ihren Gästen das Beste zu bieten, barfuß gesammelte Pflaumen und Wodka-Shots während des Abendessens. Sie hätten gern, dass auch ihr Land das Beste bietet, aber die Flüsse, Wälder und Wiesen sind „Černobyl' zone“. Sie wissen auswendig, welches die verseuchten Gebiete und wo die Verbote in Kraft sind: Zutritt verboten, Baden verboten, Obst und Pilze sammeln verboten. Viele setzte sich systematisch über diese Verbote hinweg: „Lieber sterben wir durch die Verstrahlung als vor Hunger“, sagen einige der Alten.

Wir betreten einen Wald, der jetzt sicher sein müsste, (vielleicht) dekontaminiert durch ein Joint Venture zwischen der Regierung und der Zeit. Es gibt keine Waldfauna und wir stören auch keine Tiere. Wir werden von den Ruinen einer Ferienanlage empfangen, die nach 1986 aufgegeben wurde. Ein Ort, wo viele Jahre lang ähnliche Aktivitäten angeboten wurden, wie die, für die wir hierher gekommen sind. Es sind die Zeichen einer verlorenen Zeit, der niemand nachtrauert.

Die Jungen und Mädchen, die uns begleiten, entweihen den Ort. Sie sind Experten und zeigen uns den alten Speisesaal und die Waschräume und schießen ein paar Fotos in dieser unwirklichen Umgebung, gerahmt von Piniennadeln und toten Blättern. Träge bewerfen sie die Reste einer Leninstatue mit Steinen - auch diese ironischerweise in Jubelposition - ohne die Langeweile mit Ideologie zu verwechseln.

Sie werden unbewusst zu einem Symbol des Fatalismus. Die Gewissheit, den Grad der Verstrahlung nicht mit Sicherheit feststellen zu können, verflüchtigt sich in der Möglichkeit, in einem vorgetäuschten Zauber zu leben. Der Sommer war immer die Zeit, um im Fluss zu schwimmen, in den Wäldern verstecken zu spielen und die Nacht unter freiem Himmel auf der Wiese zu verbringen. Ich habe durchdringende Blicke gesehen, die all dies für sich beanspruchen, auch hier. (Fortsetzung folgt)

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Dieser Artikel ist der erste Teil eines Hintergrundberichts über Weißrussland von Cafébabel Torino.

Translated from Orfani di un dio minore: vivere dopo Černobyl'