Good Bye, altes Deutschland
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Der deutsche Riese befindet sich in einer Krise. Doch damit er wieder zu alter Stärke zurückfinden kann, muss er sich wandeln. Denn nur so kann Europa von ihm profitieren.
In «Good Bye Lenin» gibt es eine Szene, die mit zu den seltsamsten dieses an Überraschungen wahrlich nicht armen Films gehört. Alex, die männliche Hauptperson des Films, und seine Freundin Lara, eine junge Krankenschwester aus Russland, sitzen mitten in einem heruntergekommenen Gebäude, einer Bauruine, die den Abrissbirnen gerade noch entgangen ist. Sie rauchen einen Joint und schauen hinauf zu den Sternen.
Doch so trostlos dieses Gebäude ist, so viel Neues entsteht auch in ihm. Die jungen Leute Berlins, die sich um Alex und Lara scharen, versuchen das Beste daraus aus ihrer Situation zu machen und funktionieren die Ruine einfach zu einem Partygelände um: Man sieht bizarre, buntscheckige Gestalten, die sich in der Ruine tummeln, die ganze Szene ist voller Leben. Verrückt, aber irgendwie auch komisch. Und während sich die Kamera langsam immer mehr entfernt und die beiden jungen Menschen alleine lässt, merkt man, wie treffend dieses Bild den Zustand des heutigen Deutschlands wiedergibt. Wo man auch hinschaut, werden die Gesellschaftsmodelle der alten Bundesrepublik aufgegeben und an einer neuen deutschen Identität gebastelt.
Ein Kessel Buntes
Denn der Riese in der Mitte Europas ist längst nicht mehr der, für den ihn die anderen Länder halten. Das Deutschland der Schrebergärten, der großen, blitzblank geputzten Autos und reichen Touristen ist längst passé. Deutschland ist vielfältiger, multikultureller und aufregender als die meisten seiner Nachbarn wahrhaben wollen. Das Land gleicht heute einem einzigartigen Flickenteppich: Der Süden ist reich, der Osten arm. Die Hauptstadt Berlin, die durch ihre niedrigen Preise ihre Lage in der Mitte Europas junge Leute und Künstler aus ganz Europa anzieht, ist heute eine der faszinierendsten Großstädte Europas. Und trotz des Widerstandes der konservativen Opposition wird sich das Land langsam bewusst, dass es ein Einwanderungsland geworden ist: Immer mehr Immigranten der dritten Generation drängen in die deutsche Öffentlichkeit, türkische Komiker wie Kaya Yanar haben inzwischen ihre eigene Fernsehsendung. Die Einschaltquoten dieser und auch anderer Comedy-Sendungen sind hoch. Die Deutschen können wieder lachen, sogar über sich selbst.
Riesige Probleme
Aber mit den vielen Nachteilen des alten Deutschland beginnen leider auch dessen Vorteile zu verschwinden. Das einzige, was an Deutschland heute noch riesig ist, sind seine Probleme. Der Musterknabe Europas hat sich, besonders in ökonomischer Hinsicht, in einen Prügelknaben verwandelt. Der Wohlstand der 60er und 70er Jahre fordert nun seinen Tribut: Der deutsche Riese hat sich überfressen und musste sich etwas hinlegen. Nun hat er die Entwicklungen der modernen Weltwirtschaft verschlafen und kommt nur sehr langsam wieder auf die Beine, die Reformbemühungen sind träge und langwierig. Interessenverbände, seien es Gewerkschaften oder Unternehmer, wollen ihre Besitzstände wahren und blockieren das Land seit Jahren. Steht Deutschland vor dem Ruin?
In wirtschaftlicher Hinsicht muss also keiner mehr vor Deutschland Angst haben. Und wie sieht es mit dem berühmten deutschen Nationalstolz aus? Dass diese Sorgen nicht ganz unbegründet sind, zeigen nicht nur vereinzelte Skandale wie die jüngste Antisemitismus-Affäre um den Bundestagsabgeordneten Hohmann, sondern auch strukturelle gesellschaftliche Phänomene wie der hohe Anteil von Rechtsextremisten in den neuen Bundesländern. In den Ruinen des deutschen Geschichtsbewusstseins spukt es noch. Aber dennoch: vor Deutschland müssen sich heute Franzosen, Italiener, Holländer oder Tschechen nicht mehr fürchten. Und das nicht nur, weil die deutsche Nationalmannschaft nur noch zweitklassig ist.
Wo sind die Visionen hin?
„Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt.“ Kein Satz wurde und wird von der politischen Klasse des Landes so häufig, so eindringlich wiederholt wie dieser. Und kaum ein Satz trifft so genau die politische Realität. Seinen Visionären, sei es Adenauer mit der Westbindung, Willy Brandt mit seiner Ostpolitik oder auch Helmut Kohl, dem es gelang, das wiedervereinigte Deutschland in den altbewährten Allianzen zu halten, hat das Land viel zu verdanken. Sie alle mussten sich jedoch gegen starke gesellschaftliche Widerstände durchsetzen, bevor sie ihr Ziel erreichen konnten. Solche visionäre Kraft lässt die Nachkriegsgeneration um Schröder und Fischer leider vermissen. Dieser Kanzler ist ein Pokerspieler und kein Visionär, und auch die berühmte „Humboldt-Rede“ seines Außenministers galt eher der persönlichen Profilierung. Und so sind die deutschen Visionen für Europa nach und nach eingeschlafen. Dabei wären sie nötiger denn je, denn es zeigt sich, dass Deutschland die Herausforderungen, die die westlichen Nationalstaaten im 21. Jahrhundert zu bewältigen haben, mit seinen europäischen Partnern teilt: Umbau der Sozialsysteme, Immigration und der sich anbahnende Kampf zwischen den pluralisierten Gesellschaften auf der einen und religiösen Fundamentalisten auf der anderen Seite.
Deshalb wollen wir zu Alex und Lara zurückkehren. Schließlich gehört ihnen die Zukunft. Ihr Film „Good Bye Lenin“ verzeichnet in Europa einen riesigen Erfolg. Über eine Million Franzosen wollten ihn sehen, in Großbritannien ist er der erfolgreichste deutsche Film aller Zeiten. Und soeben wurde er sogar für den europäischen Filmpreis nominiert. Kurzum: Europa lässt sich von diesem neuen Deutschland, mit all seinen Problemen und Durcheinander, begeistern. Diese neue Generation, die eines Tages von der Nachkriegsgeneration um Schröder und Fischer den Staffelstab übernehmen wird, ist mehr als alle anderen Generationen vor ihr ein selbstverständlicher Teil Europas. Wenn sich junge Deutsche begrüßen, sagen sie „Hi“, zum Abschied „Ciao“. Vielleicht kann ihnen gelingen, was Adenauer, Kohl und Schröder versagt blieb: Wirtschaftliche Stärke und gesundes Nationalbewusstsein mit europäischen Visionen zu verbinden. Doch dazu muss Deutschland nicht nur mit neuen Mitteln zu alter Stärke zurückfinden, sondern sich auch von vielem, was ihm in der Vergangenheit so lieb geworden ist, verabschieden. Wir sagen an dieser Stelle schon mal leise „Good-Bye, old Germany. Bienvenue l’Europe“.