Giovanni di Lorenzo: "Europa riskiert die Scheidung"
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Die Werte, auf die sich die Europäische Union gründet, sind laut Giovanni di Lorenzo heutzutage pathetisch. Die Unionsbürger? Leidenschaftslos. Wirtschaftliche Vorteile reichen nicht mehr für eine gemeinsame Vision. Der deutsch-italienische Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit kommentiert die Ehekrise der 27 europäischen Mitgliedstaaten im Vorfeld der Europawahlen.
Giovanni di Lorenzo ist Europäer. Der heute 50-jährige Journalist italienischer Herkunft wurde in Schweden geboren, wuchs in Rom auf und zog mit 11 Jahren nach Hannover. Am Anfang sprach di Lorenzo nur ein paar Brocken Deutsch. Heute ist er der Kopf eines der bekanntesten deutschen Blätter, Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegel, Bestsellerautor und Fernsehkommentator. Wir haben ihn in Berlin zum Auftakt der Europawahlen getroffen.
Herr di Lorenzo, gibt es eine europäische Identität?
Europa hatte eine Identität, die sich in der Geburtsstunde der Union auf die Werte unserer Großväter gründete: Bewegungsfreiheit, Wohlbefinden und Frieden. Das sind sicherlich grundsätzlich wichtige Werte. Aber für die Menschen, die in der heutigen Zeit leben, wirken sie allein etwas pathetisch. Sie reichen nicht mehr aus, um eine gemeinsame Identität zu konstruieren. Ein grundsätzlicher Fehler war die rasante Erweiterungspolitik der EU. Denn wenn man die anderen Länder nicht einmal kennt, kann man sich auch nicht mit ihnen identifizieren. Eine neue europäische Identität erblickt jetzt das Licht des Tages - eine Identität, die sich aus der Opposition gegen das institutionelle Europa herausbildet. Neben der vorausgesagten geringen Wahlbeteiligung ist das Problem der kommenden Europawahlen doch folgendes: Niemand kann Ihnen konkrete Fragen wie zum Beispiel ‚Ich bin gegen das Verbot klassischer Glühbirnen. Welche Partei muss ich wählen, um das Verbot zu kippen?‘ beantworten. Und wenn man auf diese Art von Fragen keine Antwort hat, dann haben wir ein großes Problem.
Aber es gibt doch auch Werte, die uns Europäer einen?
Unsere Selbsterkenntnis. Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass die Welt vom richtigen Weg abgekommen ist. Wir müssen begreifen, dass kein einziges Land in Europa ein Gegengewicht zu Großmächten wie den USA oder China darstellen kann. Ich spreche nicht allein von Machtpolitik, sondern auch von wesentlichen Problemen für die Menschheit wie die Klimapolitik. Wenn Europa in solchen Bereichen nicht eingreifen würde, hätten wir ein wahrhaftiges Problem. Für eine neue europäische Verfassung sollte man sich zudem nicht ausschließlich auf Leidenschaften, sondern auf rationelle Bindungen wie Freundschaft stützen. Das sind nachhaltige Werte. Und genau darin liegt auch der Unterschied zwischen einer leidenschaftlichen Liebe und einer gelungenen Ehe.
Steuern wir auf eine europäische Scheidung zu?
Ja, ich denke dieses Risiko ist reell, wenn wir weiterhin nur nach wirtschaftlichen Aspekten handeln - auch hier können wir wieder bei der Ehe ansetzen. Wenn es nur ökonomische Vorteile gibt, wird die Ehe zu Grunde gehen. Hinzu kommt wiederum die Erkenntnis, eine politische Kraft zu sein, eine kulturelle Identität zu haben und - Pardon für diesen veralteten Term - eine Moral.
Translated from Giovanni di Lorenzo: «L’Europa unita rischia il divorzio»