Ghinzu: Die lässigste Band der belgischen Rockszene
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kfluegge„Je öfter man damit schneidet, desto schärfer wird es.” Nicht mehr als diesen Messer-Werbespruch brauchen die fünf belgischen Jungs, um ihre Angriffsstrategie auf die europäischen Bühnen zu formulieren. Bereits drei scharfe Alben der Kategorie Noise-Rock haben Ghinzu auf dem Konto, live bringen sie die Massen zum Kochen, beim Interview sind sie dagegen ganz relaxt.
Ein Treffen auf dem Solidays-Festival mit John Stargasm und Jean Montevideo – schärfer als je zuvor.
Es waren einmal fünf Jungs aus Brüssel, die an einem Samstagmittag ein scharfes Messer zum Grillen suchten. In einem Schaufenster fesselte eine Klinge ihre Aufmerksamkeit, die schärfer wirkte als alle anderen: ein Ginsu-Messer. „Je öfter man damit schneidet, desto schärfer wird es.” Die Geschichte der belgischen Rockband Ghinzu ähnelt der Geschichte ihres Namensgebers, der legendären Messer-Marke: Nach außen „cheap“ (billig). Nur 19,95 Dollar für das Ginsu-Messerset? Tja, für das erste Album von Ghinzu, Electronic Jacuzzi, interessierte sich kein Platten-Label. Ein Anlass für John Stargasm und seine Kollegen alles hinzuwerfen? Nein. Sie gründeten ihr eigenes Label Dragoon und debütierten live mit einer Monstertournee von 2000 bis 2002. Ein bisschen Klinkenputzen reichte, um Electronic Jacuzzi den nötigen Respekt in der belgischen und französischen Rockszene zu verschaffen.
Ein erfolgreiches Hausrezept
Welche Zutaten braucht es, um als Rockband den ganzen Kontinent zu erobern? Für Ghinzu eine sinnlose Frage. Die Band nimmt sich ohnehin nicht so ernst: „Bei Ghinzu geht es nicht um Technik. Wir sind alle Autodidakten und spielen nach Instinkt“, gesteht mir der Sänger der Band, John Stargasm, wenige Stunden vor ihrem Auftritt auf dem Solidays-Festival am 25.Juni. Gibt es nicht vielleicht doch ein altes Hausrezept, wie man groß herauskommt? „Wenn du Musik magst, ein Klavier zu Hause hast, mit deinen Freunden ein paar Lieder schreibst, dann ist das anfangs vielleicht nur ein Hobby. Aber ehe du dich versiehst, wird die Musik eine immer größere Rolle in deinem Leben spielen...“
Sorry, aber dieser Tipp bringt uns auch nicht weiter. Eine Clique, die sich von Zeit zu Zeit trifft, um Musik zu machen, auch wenn keiner eine musikalische Ausbildung hat – geht’s noch banaler? Und dann endet die Geschichte auch noch märchenhaft mit der großen Karriere auf europäischen Live-Bühnen. Aber das bringt uns zumindest auf eine Fährte: Ghinzu lieben die Bühne. Nicht, dass sie nicht gerne ins Studio gingen. „Beides ist super“, versichert Jean Montevideo, der am Synthesizer steht und Gitarre spielt. Aber auf Tour sind sie in ihrem Element. „Konzerte? Für uns war das immer was ganz Natürliches. Hinter den Kulissen stolpern wir manchmal über Kollegen, die sich vor lauter Anspannung übergeben müssen... (Sie lachen). Aber bei uns geht’s eigentlich." Cool sind sie - zu cool? Bei einem Stromausfall, der ihren Auftritt auf dem Eurockéennes-Festival in der Nähe des französischen Belford 2005 ruinierte, überbrückten die Belgier Schlagzeug spielend und auf den Lautsprecherboxen tanzend eine Viertelstunde.
Auch beim Interview geben sie sich ganz entspannt. Zu unserem Frage-Antwort-Spiel haben wir uns mit Hut und Sonnenbrille maskiert an einen Picknicktisch gesetzt. „Gibt es belgische Vorbilder, die euch beeinflusst haben?“ „Wir lieben Tata YoYo. Yvette Horner hat uns auch sehr beeinflusst...“, erwidert Jean Montevideo, ohne die Miene zu verziehen. Doch bei dem Gedanken an den belgischen Partyklassiker „Tata YoYo“ von Annie Cordy und der rothaarigen Akkordeon-Ikone Yvette Horner kann es sich bei dieser Antwort nur um belgischen Humor handeln...
Belgien – rührend und pathetisch zugleich
Diesen Humor hätten sie angesichts des derzeitigen Politik-Chaos in Belgien fast verloren. Schon die Karriere von Ghinzu deutet auf ein gewisses Laissez-faire hin, das typisch belgisch zu sein scheint: „Belgien hat eine rührende und zugleich pathetische Seite: Es gibt keine große Musikindustrie und daher auch keinen, der Druck macht, dass es vorangeht. Deshalb läuft bei uns alles ein bisschen wild und ungezähmt.“ Sehr wild: Das erste Album produzierten sie selbst. Das zweite Album Blow – schon etwas weniger wild – kam 2003 beim Independent-Label Bang! heraus, das auch die Musik anderer belgischer Rockbands wie Zita Swoon und Girls in Hawaii produziert. Zuletzt, geradezu zurückhaltend, brachten sie 2009 das dritte Album Mirror Mirror beim Label PIAS in Belgien und bei Universal in Frankreich heraus. Keine Leugnung ihrer Prinzipien, vielmehr ein Zeichen ihrer Freiheit: „Wir haben uns schon immer selbst produziert, weil uns die Platten-Labels nicht mochten“, amüsiert sich John. „Jetzt übernimmt ein Label die Arbeit und schon ist alles anders. Schon allein, dass das Album jetzt auch international herauskommt...“ Vorbei sind die Zeiten des Klinkenputzens. Aber nicht die der Live-Auftritte. Vor allen Dingen, wenn es Schwierigkeiten mit den Radiosendern gibt. „Unter uns Künstlern gibt es eine Solidarität. Es hat keinen Bruch zwischen den flämischen und französischsprachigen Musikern in Belgien gegeben“, erläutert John, auf einmal sehr ernst, als es um die belgische Politik-Krise geht. „Andererseits haben sich gewisse flämische Radiosender geweigert, unser Album zu spielen“, gibt John zu bedenken.
Lassen sich die sonst so lässigen Rocker also von der Identitätskrise beunruhigen? „Wir finden das im Grunde sehr schade“, erklärt John. „Es gibt weniger Solidarität. Die Politiker haben die Leute mit einer Art Psychose angesteckt und daraus ist eine echte Blockade geworden. Dabei ist das total absurd, da Belgien ein kleines Land inmitten Europas ist und sich nach außen wenden muss, um existieren zu können!“ Man möchte zu gerne davon träumen, wie die belgischen Politiker dem Konzert von Ghinzu auf dem Solidays-Festival lauschen. Mit ihrem explosiven Noise-Rock sind sie scharf wie nie. Und alles wird getragen von einer von John ersonnenen Melodie, die mit Vehemenz in die Tasten des Pianos gehauen wird. „Do you read me?“ würden sie den belgischen Politikern zurufen. Der Flame Bart de Wever und der Wallone Elio di Rupo würden im Chor mit "ja" antworten...
Fotos : Artikellogo und John Stargasm live ©ROD www.le-hiboo.com/mit Genehmigung von Ghinzu; Auf dem Picknicktisch ©Purificacion Lucena; Cover des "Blow"-Albums
Videos : Ginsu-Werbung 2000 ©ginsuguy/YouTube; Stromausfall beim Festival "Eurockéennes" 2005 ©did1800/YouTube; Live-Performance "Do you read me" ©shukin/YouTube
Translated from Ghinzu : Le rock belge a ses sales gosses