Ghetto-bobos und Althippies: Die Leiden der Pariser Hausbesetzer
Published on
Halbleere Farbeimer, Spraydosen und lautes Autohupen, das von der angrenzenden Rue de Belleville herüber dringt. Dazwischen ein paar bunte Blumenkübel und eine Handvoll verirrter Street Artists, die vor der nächsten Sprayaktion noch schnell ein Bier hinunterstürzen.
Mehr braucht es nicht, um die Rue Dénoyez im Nordosten von Paris in das schmerzende Herz der Hausbesetzerszene von Paris zu verwandeln. Denn die leidet, entgegen aller Legenden von der künstlerfreundlichen und für alternative Lebensentwürfe offenen Stadt Paris.
„Früher waren Hausbesetzer noch ganz anders. Mittlerweile sind wir hier viel gemäßigter“, grummelt Pedrô! An einem regnerischen Samstagnachmittag steht der Künstler rauchend vor dem Atelier Dorian Gray. „Früher kamen wir mit Joint und Bierflasche an und haben Unruhe gestiftet. Heute reden wir mit den Hausbesitzern und putzen auch.“ Hinter den Glasscheiben beobachten Proust, Warhol, Hendrix, Obama und Beckett die Passanten. Seit 1991 ist Pedrô! Porträtkünstler und fertigt nun schon seit knapp sieben Jahren Stencils von Schriftstellern, Musikern und Anarchisten an. Ob der Präsident des Künstlerkollektivs Frichez-Nous la Paix, ein Wortspiel aus "Lasst uns in Frieden!" und dem französischen Wort für Brachland, mit dieser Entwicklung so recht glücklich ist, wird nicht ganz klar. Aber was tut man nicht alles, um trotz schwindelerregend hoher Mieten in Paris zu überleben? Pedrô! scheint einen Weg zwischen künstlerischem Anarchismus und alltäglichem Pragmatismus gefunden zu haben. „Die drei Cs: compromis, collectif, comportement. Wir versuchen, mit den Hauseigentümern zu kooperieren, schließen uns im Kollektiv zusammen und achten auf gutes Benehmen.“ Damit scheinen die Hausbesetzer der Rue Dénoyez bislang gut zu fahren, denn die meisten Ateliers werden von der Stadtverwaltung toleriert oder sogar gefördert.
Ein bisschen Niki de Saint Phalle, ein bisschen Abbé Pierre
Rosalie, die in dem angrenzenden Atelier La Maison de la Plage arbeitet und ausstellt, zeigt auf die massiven Keramikkübel, die die Straße säumen. Die Végétalisation participative („Begrünung zum Mitmachen“) begann als Projekt der Künstler Marie Decraene und Guy Honoré, wurde dann von der Stadtverwaltung finanziell unterstützt und ist ein derartiger Erfolg geworden, dass die Bürgermeisterin nun darüber nachdenkt, die gleiche Aktion in anderen Vierteln zu wiederholen. Die Idee ist simpel: Warum nicht ein paar Blumentöpfe aufstellen, sie mit Jugendlichen aus dem Viertel verzieren und dann alle zu einer großen Einweihungsparty einladen? Die Mosaiktöpfe stehen dabei auch für den Multikulticharakter von Belleville, das traditionell ein Arbeiter- und Einwandererviertel ist. Ein bisschen Niki de Saint Phalle, ein bisschen Abbé Pierre - und schon ist die kreative Straßenbegrünung perfekt.
Der Kontakt zu den Menschen aus dem Viertel ist wohl Teil dessen, was Pedrô! „Nachbarschaftskunst“ nennt. Im Gegensatz zu etablierten Künstlern, die in den großen Galerien ausstellen, wollen die Künstler von Belleville nah am Leben sein. Immerhin verfügen die meisten Ateliers mittlerweile über prekäre Mietverträge, die von der Stadtverwaltung für ein oder zwei Jahre ausgestellt werden. Die Mieten zahlen städtische Kulturbehörden. „Vor fünfzehn Jahren haben wir noch alle Fuck le Maire! gerufen. Jetzt sagen wir nur noch Merci le Maire“, meint Pedrô! lachend. Sind die Pariser Hausbesetzer also nur an der Oberfläche unangepasste Weltverbesserer? Ein wenig mag es so scheinen, aber wer weiß schon, wo es in Paris noch einen echten, anarchistisch-künstlerischen underground gibt. Pedrô! kaut bei diesem tristen Gedanken auf seiner Zigarette.
Vom Künstler zum Hausmeister
Aber es gibt auch andere Methoden, der Wohnkrise beizukommen. Francine* besetzt nun schon seit mehreren Wochen mit drei befreundeten Künstlern ein Gebäude in Montreuil, einem Vorort im Osten von Paris. Allerdings ist das keine illegale Hausbesetzung, denn Francine und ihre Mitstreiter haben einen informellen Vertrag mit den Eigentümern geschlossen: Die Besetzer passen auf das Haus auf, die Besitzer lassen sie in Ruhe, solange sie keinen Käufer oder Mieter finden. „Die Vermieterin war über das Arrangement so froh, dass sie mich am ersten Tag sogar umarmt hat!“ Daher nennen Francine und ihre Kollegen sich auch nicht „Hausbesetzer“ sondern „Hausmeister“. Dass dieses System vielen anarchistischer und antibürgerlicher veranlagten Hausbesetzern sauer aufstößt, ist klar. Aber für Francine ist es eine Möglichkeit, sicher und ohne hohe Mietausgaben zu leben. Bis auf Strom- und Wohnkosten zahlen die „Hausmeister“ nichts und sind mittlerweile dabei, ein Restaurant für Obdachlose einzurichten.
Invasion der ghetto-bobos: die moderne Variante der 68er?
Mittlerweile ist der Regen stärker geworden und eine Handvoll Sprayer, die vor ein paar Minuten noch die Wand gegenüber der Maison de la Plage bearbeitet haben, verziehen sich in eine Bar. Die drei Jugendlichen, die gerade ihre Kameras auspacken, scheint das wenig zu stören. Franck, der kreative Kopf der Gruppe, erklärt, dass sie Bilder für ihre neue Ökomodenkollektion Les jardins parisiens machen. Dafür scheint ihnen Belleville wie gemacht, denn dieses Viertel drücke am besten die Philosophie ihrer Marke aus: „Belleville ist zwar irgendwie noch ghetto, wegen der vielen Einwanderer, aber eben auch cool und angesagt, also bobo („bourgeois-bohème“). Ghetto-bobo: Das ist für uns der Vibe von Belleville.“
Während einer der drei seinen Leinenschal zurecht zupft und sich in Pose wirft, vermischen sich die noch frischen Farben an der Graffitiwand mit dem Regen und beginnen, langsam auf den Bürgersteig zu tropfen. Franck hat mit seiner Wortschöpfung ghetto-bobo wahrscheinlich auch den Nerv der Hausbesetzerszene in Paris getroffen. Ein bisschen arm und underground, ein bisschen chic und bürgerfreundlich. In welche Richtung das Pendel in den nächsten Jahren ausschlagen wird, ist ungewiss. Es bleibt zu hoffen, dass der Drahtseilakt der Künstler von Belleville noch ein paar Jahre dauert, bevor es der Stadtverwaltung zu bunt und unrentabel wird. Die Graffitis werden die nächsten Wochen wohl nicht überleben, aber zumindest die Blumenkübel scheinen massiv genug, um die nächste Räumungsaktion zu überstehen.
Fotos: ©Alexandra Jastrzebska; Stencil (cc)pedrodorianblog; Végétalisation participative (cc)vegetaliser.canalblog.com; Ökolabel (cc)lesjardinsparisiens.fr