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Gesine Schwan: „Ich habe so ein Youtube nie gesehen“

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Politik

Die SPD-Politikerin und zweifache Präsidentschaftskandidatin in Deutschland, Gesine Schwan, sprach mit uns über die Nouvelle Vague und Engagement, die Politikproduktionsmaschinerie, über zu viel Geld und ein neoliberales Politikverständnis. Wir trafen sie auf der Europanova-Konferenz über die Zukunft Europas in Paris.

Gesine Schwan - Für biografische Daten mit der Maus über die Punkte auf dem fahren. (cc) Stephan Rühl/Heinrich-Böll-Stiftung 

Frau Schwan, wieso sollten sich junge Menschen noch mit der EU auseinandersetzen, wo doch gerade so viel schief läuft?

Wenn Sie ein junger Mensch sind, werden Sie immer in eine Welt hineingeboren, die Sie nicht gemacht haben. Dann müssen Sie sich auseinandersetzen. Und selbst wenn Sie sich nicht damit auseinandersetzen und die Augen verschließen, dann setzen sie sich damit auseinander: Das ist dann eben eine schlechte Auseinandersetzung.

Man kann aber auch in konfrontativen Widerstand gehen...

Dagegen ist auch nichts einzusetzen! Konfrontativer Widerstand ist oft erstmal naheliegend. Aber auf Dauer, glaube ich, ist es ist gut, daraus doch etwas Konstruktives zu machen. Natürlich hängt das auch davon ab, wie die Realität reagiert. Wenn sie stur reagiert, dann gehen auch Sie nicht auf das Gegenüber ein und bleiben bei der Konfrontation. Aber wenn die andere Seite ein wenig einlenkt und auf Sie zugeht, dann gehen sie auch auf die anderen ein - das ist meine Erfahrung. Und dann müssen sie sich mit den Menschen auseinandersetzen, auch wenn sie nichts von einem und den eigenen Standpunkten wissen wollen. Da muss man sich fragen: ‚Was ist jetzt mit denen? Wie komme ich an die ran?‘ Diese Herausforderung, Andere zu verstehen, ist etwas, das mir Spaß macht, die man aber immer annehmen muss.

Finden Sie denn, dass die EU auf unsere Generation zugeht? Was halten Sie zum Beispiel von Jean-Claude Junckers Versuch, über Interviews mit YouTubern auf die Jugendlichen einzugehen?

Ich habe ehrlich gesagt so ein YouTube nie gesehen. Damit kenne ich mich nicht aus, deswegen kann ich es nicht bewerten. Wenn er es gut gemacht hat, wenn er ehrlich war, dann kann es gut gewesen sein. Junge Menschen brauchen ein Feld sinnvoller Aktivität, sie müssen etwas gestalten und angstfrei sprechen dürfen.

Aber ich habe den Eindruck, dass die leitenden Personen in der EU immer das Gefühl haben: 'Wir machen das doch so gut, warum erkennen die das denn nicht?' Und deswegen machen sie Propaganda. Oder sie denken: 'Dann müssen wir die noch besser bedienen.' Das hängt damit zusammen, dass das ganze Politikverständnis auch im Zuge des Neoliberalismus dem Marktverständnis gleichgesetzt worden ist und die Bürger als Kunden interpretiert werden, die Anspruch auf gute Konsumgüter, auf gute Waren haben. Dann muss die Politik was Gutes anbieten. Das ist aber ein völliges Missverständnis! Politik ist etwas ganz anderes, als eine Produktionsmaschine.

Was ist Ihrer Meinung nach dann Politik?

Politik ist das Geschehen, wo wir alle unsere Verantwortung wahrnehmen. Politik kann keine bessere Welt schaffen, wenn die Welt so ist, wie sie ist. Sie kann nicht einfach mit dem Hebel alles umstellen, sondern muss appellieren an die Verantwortung von allen. Ich glaube, je mehr die Menschen sich beteiligen, selbst nachdenken, sich damit identifizieren, desto größer die Zustimmung. Das ist eine ganz alte Erfahrung seit den Griechen: Es ist das gemeinsame Werk, das verbindet.

Sie selbst sind ja sehr engagiert, in Politik, Bildung und Völkerverständigung. Wieso?

Jeder von uns muss seine jeweilige Verantwortung erkennen, das war mit mir genauso als ich jung war. Es gab damals so eine französische Filmwelle, die hieß Nouvelle Vague. Ihre Botschaft war: Die Welt, die uns vom Zweiten Weltkrieg und vom Nationalsozialismus und der französischen Kollaboration hinterlassen worden ist, ist schrecklich, wir flippen jetzt einfach aus! Und ich fand damals schon: Das ist Unsinn! Andere Generationen haben auch schon schreckliche Welten übergeben bekommen, man muss immer 'was machen.

Auf der anderen Seite war es wahrscheinlich für viele in meiner Generation einfacher, weil wir eine ganz positive Perspektive hatten. Es ging aufwärts, wir sahen die Demokratien gestärkt, wir sahen den Aufstieg humanitärer Werte, nach allem was geschehen war. Von daher war das - jedenfalls in meinem Verständnis - einfacher. Aber ich kam auch aus einer sehr politischen Familie, da gab es nicht die Frage, ob ich mich engagieren würde sondern nur wie. Sich zu engagieren ist aber heute atmosphärisch viel schwieriger, weil die allgemeine Perspektive nicht Zuversicht ist, sondern eher „das wird sowieso nichts“.

Woran liegt das, glauben Sie?

Meine Diagnose ist, dass das sehr viel mit 30 Jahren neoliberaler Politik und Kultur zu tun hat: Man hat gesagt, der Markt würde alles regeln. Politik würde nur zu Bürokratie führen oder sei korruptionsfördernd. Politik wurde systematisch diskreditiert. Auch die Solidarität wurde kulturell systematisch kaputt gemacht.

Ich glaube aber, die menschliche Natur ist ziemlich unverwüstlich. Und deswegen kommt Solidarität immer wieder, wie wir im zivilgesellschaftlichen Engagement sehen. Weil es auch das einzige ist, was dem Leben Sinn gibt. Geld anzuhäufen und in Luxusapartments zu leben, ist auf Dauer einfach langweilig. Und die vielen Drogenabhängigkeiten und Depressionen, die man in diesen Kreisen hat, sind ein Zeichen dafür.

Dennoch spricht man davon, dass unsere Generation total apolitisch ist und sich nicht engagiert. Haben Sie auch das Gefühl?

Junge Menschen heute engagieren sich nicht mehr in Parteien. Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht engagieren. Sie sind in Bürgerinitiativen, besonders in Flüchtlingsinitiativen aktiv. Was ich propagiere? Die Städte und Kommunen zu stärken und direkt zu finanzieren - natürlich erstmal jetzt in der Flüchtlingsfrage, aber auch im Allgemeinen. Das ist meiner Meinung nach ein Mittel, dass Jugendliche sich positiv und konstruktiv engagieren können.

Junge Menschen haben ja doch den Wunsch, dass es besser wird. Die sind noch ansprechbar auf harte Ungerechtigkeiten - das sind abgebrühte Leute, die älter sind, oft nicht mehr. In Europa gibt es eine deutlich erkennbare Initiative von Städten und Kommunen, dass sie mehr sagen und von der EU-Kommission eine direkte Finanzierung bekommen wollen. Dort ist Engagement gefragt - viel mehr als zu diesen Referenden [gemeint sind die Referenden in Großbritannien und in Ungarn, Anm. d. Red.], die waren ja nicht besonders erfreulich, weil sie auch nicht sehr hilfreich und konstruktiv waren.

Und ganz konkret: Wo sehen Sie Bedarf für Engagement?

Das ist für mich ganz klar die Integration. Es geht dabei nicht nur um die Integration von Einwandernden in eine sogenannte Mehrheitsgesellschaft, denn wir haben in hohem Maße eine desintegrierte Gesellschaft: Wir haben Arme und Reiche, manche Menschen haben sich schon völlig aufgegeben und andere wissen nicht, wohin mit dem Geld.

Die ganze Frage, mit welcher Fantasie man an eine neue Art des Zusammenlebens geht, ist sehr wichtig. Ich denke da an ein Projekt in Berlin, in einem großen ehemaligen Fabrikhaus, das sieben Tage die Woche offen ist und Geflüchtete mit Menschen verbindet, die schon länger dort wohnen. Dort gibt es alle möglichen Initiativen - auch von Geflüchteten selbst. Dort wirken die Einheimischen und die Geflüchteten gleichberechtigt zusammen, anstatt mit der Einstellung heranzugehen „wir betreuen euch jetzt mal“. So wird partnerschaftliche Begegnung möglich und das ist der entscheidende Punkt.

Der Bürgerschaft kommt in dieser Frage eine große Rolle zu, weil die politischen Entscheider nicht mehr in der Lage sind, die Disparitäten in der Gesellschaft einzufangen.