Fünfeinhalb Minuten Europa
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Bukarest, Bozen, Berlin…Die 24-jährige Nurith begibt sich auf einen turbulenten Roadtrip durch Europa und pendelt zwischen grenzenlosen Liebeleien und Fernweh.
Tee getrunken in Bukarest mit Milch und Honig, gemischte Kekse für 6 Leu [1,40 Euro], während sich draußen der Verkehr über Bulevardul Magheru schiebt. Kein Durchkommen ab halb vier, Busse, die wie in einer Reihen hintereinander stehen, die Straßenbahnen, die ihre Türen geöffnet haben; die meisten gehen zu Fuß weiter. Schlaglöcher in den Straßen, Wurzeln, die sich ihren Weg durch den Asphalt bahnen. Fast ist es wie ein Spiel, den Unebenheiten aus dem Weg zu gehen, über die Pfützen zu springen; die Schuhe grau vom Staub, in den Ohren das Hupen der genervten Autofahrer, dröhnende Pop-Songs in den Bussen. Erst wenn sich die Dunkelheit über die Stadt senkt, wird es ruhig über Bukarest; nur die Hunde, die hungrig streunend durch die Straßen ziehen, schauen noch gelangweilt auf, als ich an ihnen vorbeigehe.
„Écris-moi“, schreibt mir Benjamin auf einen Zettel, den er mir über den Tisch reicht. „Écris-moi en français!“ Auch Wochen später habe ich ihm nicht geschrieben, dafür Cyril, aber er hat meine Nachricht nicht bekommen, weil er in jenem Moment nicht zu Hause war und ich habe seine nicht bekommen, denn als er zurück kam, war ich bereits in den Zug eingestiegen, Kopf aus dem Fenster, wehendes Haar, das Abteil leer, die Bahnhöfe Orte im Nirgendwo zwischen goldenen Feldern, auf denen Bauern ihr Land bestellen.
Als ich aussteige, ist es Nacht über Bozen, schlafende Berge, die Sterne, die mit den Lichtern der Stadt um die Wette strahlen. Mein Koffer, der holpernd über die rauen Pflastersteine springt - klack, klack, klack - das einzige Geräusch auf meinem Weg durch eine schlafende Stadt, vorbei am Dom - klack, klack, klack - durch die schmalen Gassen der Stadt, am Obstmarkt vorbei, dessen Stände geschlossen sind, über die Brücke, unter der die Talfer fließt - klack, klack, klack - eine Tür, die aufschwingt, eine schläfrige Umarmung dahinter.
Von ersten Schneeflocken, die auf die Stadt fallen, schreibt mir Riccardo später, und ich kann sie riechen, die Schneeflocken, rieche den Geruch von Bozen im Winter, wenn es kalt ist, wenn es früh dunkel ist und man von den Lauben in den dunklen Abend tritt. Aber das ist später, als ich schon lange die Stadt verlassen habe - nur die Erinnerung, die geblieben ist und ein verlassener Riccardo, der mir schreibt, dass es Winter wird über der Stadt, dass mir die Tränen warm über die Wangen laufen während mich ein neuer Zug Richtung Norden bringt.
Amélie habe ich Mohnkrapfen mitgebracht, Philippe mir Crème de caramel au beurre salé. Wir frühstücken zusammen während der Wind sanft gegen die Fenster schlägt, die Croissants noch warm, das Baguette für später. Als die Sonne zwischen den Häusern hervorkommt, machen wir uns auf den Weg durch den Tag, unsere Fahrräder ächzend, ein Bikini im Rucksack, einer ungefähren Vorstellung der Karte im Kopf folgend: Jetzt weiter Richtung Süden, Osten, dann weiter nördlich durch die Dörfer hindurch, Hühner, die verschreckt aufspringen, als wir an ihnen vorbeirauschen, zwei Hunde, die aufpassen. Mittags entdecken wir einen Strand zwischen den Felsen, ein kalter Atlantik, der uns empfängt und uns sanft auf seinen Wellen trägt. Wir essen Crêpes am Hafen bis die Karamellsoße auf unsere Hemden tropft, unsere Hände vom Zucker klebrig sind. Als ich über Philippes Pullover streiche, bleiben schwarze Flusen an meinen Fingern hängen. Ein verlegendes Lächeln, Philippe, der seinen Arm um mich legt, seine Lippen auf meinen, die nach salzigem Karamell schmecken. Später sitze ich wieder auf dem Schiff, schaue nach vorne, während Philippe am Hafenrand zurück bleibt, langsam sein Fahrrad zur Hauptstraße lenkt, während die Anderen für uns winken.
Au revoir, Amélie, au revoir, Manuel, als ich sie wiedersehe ist es Frühling über Berlin; die stuckverzierten Decken unserer Wohnung hoch, knarzende Dielen. Nach vier Monaten sind unsere Töpfe und Pfannen so sehr abgenutzt, dass ihre Griffe und Henkel zu wackeln beginnen und schließlich abbrechen, wir sie als Ofenform benutzen. Gemüsegratin nun statt Suppe, Auflauf statt Nudeln. Der Toaster funktioniert schon lange nicht mehr. Habe den Sonntag mit Jan verbracht, auf dem Teppich gelegen, ein abgestreiftes Sommerkleid neben der Eingangstür, den Tag an uns vorbeiziehen lassen, ein blauer Himmel, lachendes Stimmengewirr im Hof. Abends treffen wir uns zum Tango vor dem Alten Museum, Rotwein auf den Wiesen, auf die wir Decken gebreitet haben. „Du solltest mich im Schlafe sehen, wenn ich von dir träume“, flüstert Jan. - „Du träumst?“ Er nickt. „Ich träume und lächle. So wie jetzt. Wenn ich aufwache, wirst du weg sein.“ Ich schweige. Ja, eines Tages werde ich weg sein, weiterziehen.
Und ich bin weitergezogen, an einem Tag im Herbst, an dem draußen der Nebel lag, während drinnen ein Feuer im Kamin brannte. Aber noch ist Sommer, wir untergehakt, meine Augen leuchtend als wir den Burgberg über Budapest erklimmen, nach Atmen ringend als unser Blick über die Stadt gleitet. Jugendstilbäder, weite Parks, renovierte Paläste, die noch nach frischer Farbe riechen, neben grauen Villen im Dornröschenschlaf, an denen der Putz bröckelt. Ein bärtiger Mann, der sein Hab und Gut in einem Einkaufswagen vor sich herschiebt; breite Straßen vor der Stadt, die ganze Dörfer durchziehen, tote Hunde am Wegesrand; Werbeplakate in leuchtend Blau und Rot vor weiter Landschaft. Bei Demel kaufen wir Vollmilchschokolade, dessen Silberpapier noch zwischen meinen Finger knistert, während ich die Schaufensterdekoration aus Zucker und Marzipan bestaune. Kandierte Veilchen für die Dame, Zartbitterschokolade für den Herrn, von den Verkäuferinnen in dritter Person Singular bedient. Vor der Tür schlägt uns die Hitze des Mittags entgegen. Schwirrende Luft, die über den Häusern steht, vermischt mit dem Dröhnen der Motorradfahrer, das Horn eines Schiffes, das am Hafen anlegt; unsere Sonnenmilch schon lange verbraucht.
Nach zwei Wochen haben unsere Haare goldgelbe Strähnen bekommen, aus verbrannten Gesichtern funkeln uns blau-grüne Augen entgegen, wenn wir uns morgens im Spiegel betrachten. Am Strand hoffen wir darauf Perlen statt Muscheln zu finden, doch alles was wir finden sind Glassplitter, die in der Sonne glitzern. Wir verbringen die Abende über unseren Büchern versunken, Kasper auf dem Sofa, ich am Tisch, Kasper im Bett liegend, auf dem sich die Bücher stapeln, ich am Küchentisch, während draußen der Frühling über der Stadt aufzieht. Schokoladencroissants hatte er mir versprochen, Wochenenden am See. Stattdessen gibt es kalte Bohnen mit Brot und Kaffeetrinken bei Tante Trude, deren Dialekt ich nicht verstehe, ich nur hilflos lächle, während Kasper unter dem Tisch mit seinem Handy spielt.
Zum Abschied schenkt er mir eine dunkelgrüne Hutschachtel mit rotem Band, in der ich später seine Briefe aufbewahre, adressiert an „meine Liebe“, „meine Prinzessin“, während draußen ein neuer Frühling aufzieht, ein Frühling voller Tulpen vermischt mit dem Klappern von Fahrrädern über holprigen Straßen und dem Geruch des Meeres hinter dem Damm.
1.Platz - Das sagte die Jury: Nurith, 24 Jahre alt, berichtet von einer bewegenden und atmosphärisch dichten Reise durch ganz Europa. Sie trifft das Thema genau: Es geht um das Verlassenwerden und Lieben über Grenzen hinweg.