Frühling der Bourgeoisie: die goldene Jugend Casablancas
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Barbara BraunDer angesagteste Nachtclub der Stadt liegt gleich neben einem uralten Slum: Casablanca ist eine Stadt voller Klischees und Widersprüche. Die reiche, goldene Jugend der Stadt verkörpert die sozialen Risse eines ganzen Landes. Eindrücke aus der Welt des Protzes zwischen Existenzängsten und teuerstem Wodka.
Je näher man der Bar kommt, desto dunkler wird es. Ein paar Mädels mit hohen Pumps wiegen die Köpfe zu den Klängen von Loungemusik und ziehen an ihren Zigaretten. Weiter hinten an den reservierten Tischen für betuchte Stammgäste, bestellen zwei Mädchen mit einem Weinglas in der Hand Essen, das sie nicht anrühren werden. Jungs in Anzügen und Mädels in Bustierkleidern machen sich auf den Weg zum Nebenraum, wo der DJ gleich sein Deep-house-Set auflegen wird.
der sohn des premierministers in Trainspotting
Ein normaler Jeudeep-Abend in Casablanca. Die Skybar mit Meerblick empfängt ihre Stammgäste. Junge Erben, Kids betuchter Eltern, reiche Aussiedler und ein paar Models, zeigen sich hier. Simo Sajid kennt diese goldene Jugend Marokkos nur zu gut. Er ist derjenige, der die Schickeria der Wirtschaftsmetropole jeden Donnerstagabend im angesagten Lokal Naïda zum Tanzen bringt. Mit Halskette und Armbändern aus Holzperlen, ähnelt der 39-jährige DJ einem Guru. Simo alias Seejay hat in diesem Milieu viel Einfluss. Neben der Skybar mischt er als Haus-DJ im 25, einem anderen Hotspot der verwöhnten Jugend.
Er selbst gehört zu jener Elite. Sajid ist auch der Familienname von Mohammed, dem Bürgermeister von Casablanca, der sein Onkel ist. Sein Vater steht an der Spitze eines Familienunternehmens mit soliden Firmen im Textil- und Immobilienbereich. „Ich war zum Firmenchef geboren. Und das war ich auch zehn Jahre lang. Ich wurde vom DG (Directeur Général, Generaldirektor; Anm. der Redaktion) zum DJ", erklärt er mir und schaut mich über den Rand seiner Sonnenbrille an.
Wir fahren mit seinem Audi A6 durch die Stadt. Simo denkt lange nach, bevor er die goldene Jugend Casablancas beschreibt. Mit Zigarette im Mund versucht er es auf den Punkt zu bringen. „Sie fühlt sich eingeengt", meint er. Wir fahren durch die Straßen des Viertels Anfa, dem 4. Bezirk der Stadt. Palmen, riesige Portale, fast wie Beverly Hills. „Die goldene Jugend von Casablanca mag es nicht, wenn man über sie spricht", fährt er fort und nimmt eine scharfe Kurve, „die Menschen werden mit sich selbst nicht fertig." Es ist kein Geheimnis, dass sich die junge und jung gebliebene Bourgeoisie hauptsächlich über Geld definiert. Große Schlitten, Partys ohne Ende, maßlose Wodka-Trinker, Eskortgirls... die Klischees entsprechen der tatsächlichen Maßlosigkeit. „Kannst du dich an den Satz aus Trainspotting erinnern? 'Choose life. Choose a job. Choose a career. Choose a family'... genau das ist es."
Der Film Marock (2005) von Laïla Marrakchi, gab dem ganzen Land Einblick in die Exzesse der verzogenen, reichen Jugend von Casablanca. Im Film geht es um Drogen, hemmungslosen Sex und Autowettrennen. Im Kielwasser des Spielfilms wird viel polemisiert. Beim 8. nationalen Filmfestival in Tanger verlor ein Journalist mitten in der Pressekonferenz die Nerven und beschimpfte die marokkanische Filmemacherin. Sie habe das Leben der wohlhabenden Jugend in Szene gesetzt, während vor den Türen der Villen 6,3 Millionen Arme täglich ums Überleben kämpfen. Die Anekdote schildert mir Sonia Terrab. Sie ist selbst Journalistin und Autorin des Romans Shamablanca. Die knapp 30-jährige junge Frau aus wohlhabendem Haus kommt aus der Stadt Meknes weiter im Landesinneren. Sie hat sich mit diesem Roman über das exzessive Leben der jungen Generation selbst den Zorn ihres eigenen Familienklans zugezogen. Warum? „Weil ich die Wahrheit geschrieben und immer wieder wiederholt habe." Oder anders gesagt, sie hat über eine Jugend geschrieben, die Angst vor ihrem eigenen Schatten hat und versucht den Schein zu wahren. „Sie erinnert mich an die Jugend der Upper Class in den USA der 50er Jahre", setzt Sonia fort, „an jene Jugend, die kurz vor der sexuellen Revolution von allem profitierte, allerdings immer nur im Geheimen."
Trailer des Films Marock, von Laïla Marrakchi (2005)
"der wolf der Wall Street, nur ohne koks"
Anis trinkt in der Skybar nicht. Er ist einfach nur hier, um „ein Glas Cola zu trinken und gute Musik zu hören." Er trägt einen schwarzen Anzug, rosa Hemd und ein passendes Stecktuch. Der Jungunternehmer lebt zwischen Paris und Casablanca. Im 16. Pariser Bezirk ist er dabei Notar zu werden. In Casablanca verkauft er Luxuskronleuchter. Er atmet ein paar Mal tief durch, bevor er seine Meinung zur uns umgebenden Schamlosigkeit abgibt. „Ganz ehrlich, 60 Prozent der Leute hier arbeiten nie, sondern leben vom Reichtum ihrer Eltern."
Als uns Anis El Hamzi um nächsten Tag in seinem Showroom Cristolux im halbschicken Viertel Mers Sultan empfängt, ist er genauso taufrisch wie am Vortag. Gut rasiert und in Armani-Anzug, steigt Anis in seinen Renault: „Ich hätte mir einen Panamera leisten können, aber ich glaube ihr habt schon verstanden, dass ich kein Angeber bin. Ich investiere lieber in meine Geschäfte." Seine Geschäfte haben es ihm ermöglicht, eine 650 000 Euro teure Villa unweit des Königspalastes für ihn und seine Mutter zu kaufen. Während er uns sein Anwesen zeigt, betont der junge Firmenchef immer wieder, dass ihm seine Familie Werte mitgegeben hat, die völlig konträr zu jenen der privilegierten, verwöhnten Kindern reicher Leute sind: „Arbeit, Ambition und Wissen." Er meint 50 Prozent seines Erfolges seiner Erziehung zu verdanken. Die anderen 50 Prozent verdanke er Frankreich. Seine Vorbilder? „Sarkozy, Valls, Xavier Niel", aber auch Jordan Belfort, der von Leonardo Di Caprio gespielte Trader. „Weißt du, ich kann mich gut mit dem Wolf der Wall Street identifizieren. Nur ohne Koks und Angeberei." Anis El Hamzi definiert sich mit einem Zitat, das an der Wand seines Wohnzimmers hängt: „Think Rich, Look Poor".
im goldenen Käfig
In Wahrheit steht Anis mit seiner Werbung für die Kultur des Self-made Man ziemlich alleine da. In Casablanca ist Konformismus die Norm, gefestigt von allen Facetten einer Monarchie. „Vergiß nicht, dass wir hier in einem Land sind, in dem der König von der jungen Generation noch wie ein Rockstar verehrt wird", meint Anis und beißt genüsslich sein Vanille-Eclair. „Und er ist auf Lebenszeit gewählt." Im echten Leben sieht der Alltag der goldenen Generation so aus: „Verreisen um zu feiern und zurückkommen um zu tun, als ob man im Familienbetrieb arbeiten würde", fährt Simo fort. „Und für die Mädels heißt es immer noch: finde einen Job, aber finde vor allem einen betuchten Ehemann." Und Sonia meint abschließend: „Wenn ich mich mit den jungen Privilegierten zusammensetze, um über Gesellschaftsthemen zu diskutieren, stelle ich immer wieder fest, dass sie wesentlich verschlossener sind als ihre Eltern."
Wie lautet die Anklage? Nicht etwa Privilegien oder Komatrinken werden angeprangert, sondern vielmehr die Tatsache, dass ein Teil der Bevölkerung die finanziellen Mittel für Veränderung und soziales Engagement hat, aber nichts dergleichen tut. „Ich erwarte von ihnen Offenheit. Ich erwarte von ihnen, dass sie sich betroffen fühlen, weil viele von ihnen im Ausland gelebt haben und etwas beitragen können. Die jungen Reichen waren in vielen Ländern die Antriebskraft für Veränderung. In Marokko ist das nicht der Fall", fährt Sonia fort. In Casablanca, wo der hippste Nachtclub gleich neben einem der 500 Slums der Stadt liegt, bleibt Ignoranz das Schlüsselwort, wenn es darum geht, die Beziehung der reichen Kids zur Außenwelt zu beschreiben. „Es gibt eine physische Grenze", erklärt Sonia hinter einer Rauchwolke, „und diese Grenze ist die geschlossene Fensterscheibe." Anis sticht wieder aus der Masse. Er hilft den Armen dieser Stadt, spendet „eine gewisse Summe" an Menschen mit Behinderung der 111 500 Familien, die die Armenvierteln bevölkern. Anis ist überzeugt, dass „wir dank dieses Kontrastes zu einem der 10 stabilsten Ländern der Welt gehören." In den Köpfen der goldenen Generation, scheint Marokko allerdings ein unverständliches Land zu sein, wo sich das Leben der Reichen laut Sonia darauf beschränkt, „zwischen mehreren Stühlen zu sitzen und das auch noch komfortabel zu finden. Oder auch nicht."
Dieser artikel ist teil der SPEZIALAUSGABE « EUROMED REPORTER » IN Casablanca. cafébabel Arbeitet hier in kooperation mit iwatch und der stiftung anna Lindh. bald findet ihr alle artikel der «EUROMED REPORTER » auf seite eins des magazins.
Translated from La jeunesse dorée de Casablanca : le printemps des bourges