Frankreich von ganz unten
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Von Till Neumann Krise. Krise hier, Krise da. Krise überall. Seit einiger Zeit ist das Wort in aller Munde. Aber was heißt das eigentlich: Krise? Und wie schlimm sind die Auswirkungen, vor allem für die sozial Schwächeren? Das wollte die renommierte Journalistin Florence Aubenas herausfinden.
Die Französin, die 2005 monatelang im Irak in Geiselhaft war, hat von Februar bis Juli 2009 ein Experiment durchgeführt. Ein sechsmonatiges Rollenspiel der besonderen Art. Ihren Job als Grand Reporter beim Nouvel Observateur gab sie auf, um das Frankreich von „ganz unten“ kennen zu lernen. Sie meldete sich arbeitslos, gab an seit Jahren nicht gearbeitet zu haben und wies als einzigen Abschluss das Abitur vor. In Caen machte sie sich auf Jobsuche. Das Ziel: ein unbefristeter Arbeitsvertrag. Über diese Selbsterfahrung hat sie jetzt ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel Le quai de Ouistreham und erinnert an die Arbeiten des deutschen Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff. Am 24. Februar war Aubenas in Straßburg, um ihr Buch vorzustellen.
„Alle redeten von der Krise. Man hatte den Eindruck, die Welt geht unter. Aber um uns herum war alles in bester Ordnung“, schreibt Aubenas im Vorwort ihres Buches. Die Realität der Krise war ihr als Journalistin nahezu ungreifbar. Das Experiment dann wohl eine logische Schlussfolgerung. In ihrer neuen Rolle heißt sie noch immer Florence Aubenas, aber ihre Lebensgeschichte ist eine andere. Ihr Abschluss? Abitur. Berufserfahrung? Gleich null. Die Erfahrung mit einem solchen Lebenslauf auf Jobsuche zu gehen ist für sie erschreckend. „Das Schlimmste für mich als Arbeitslose war das Zeitgefühl. Man meint immer Arbeitslose hätten unheimlich viel Zeit. Aber das stimmt nicht. Man verbringt den Tag mit Jobsuche, man schwebt im Nichts. Und die Arbeitsvermittler haben kaum Zeit um sich zu kümmern“, erzählt Aubenas. Nach langer Suche findet sie schließlich doch einen Job als Putzfrau auf einem Campingplatz und am Hafen von Ouistreham. Die Arbeit erlebt sie als Qual. Die Bedingungen sind miserabel, die Bezahlung schlecht. Nach sechs Monaten wird ihr dann ein unbefristeter Arbeitsvertrag angeboten. Bis dahin erfährt sie Demütigung und Vorurteile, Ausnutzung und Verachtung. Aber auch Solidarität.
In ihrem Buch schildert sie das auf eine fesselnde Art und Weise. Sie beobachtet, beschreibt, erzählt. Und lässt dabei vor allem die Anderen zu Wort kommen. Diejenigen, die mit ihr das Frankreich von unten erleben. Manchmal meint man in einem Roman zu sein, so bunt sind ihre Begegnungen, so detailliert ihre Ausführungen. Doch das große Erschrecken bleibt aus. Was Aubenas schildert hat nichts von Skandal oder Spektakel. Es ist, so banal es klingt, schlicht und einfach Realität. Eine Realität, die zwar erschreckend ist, aber keine revolutionäre Erkenntnis. „Ich wollte das Unsichtbare sichtbar machen“, sagt Aubenas. Wirklich Unsichtbares ist in diesem Buch aber nicht sichtbar geworden.
Die Art ihres journalistischen Rollenspiels ist nichts Neues. Aubenas ist sich dessen bewusst, und kennt die Werke ihrer Vorgänger. Vor allem die des deutschen Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff. „Früher war Wallraff ein Idol für mich, seine Geschichten habe ich richtig verschlungen“, so Aubenas. Wallraff ist schon in den 70-er Jahren in Deutschland als Enthüllungsjournalist bekannt geworden. Getarnt als Hans Esser arbeitete er über drei Monate lang als Redakteur bei der BILD-Zeitung, um deren unsauberen Recherchemethoden aufzudecken. Sein Erfahrungsbericht darüber (Der Aufmacher: Der Mann, der bei BILD Hans Esser war) sorgte damals für viel Furore. Doch nicht nur bei BILD wollte Wallraff Missstände aufdecken. Unter anderem war er auch unterwegs als türkischer Gastarbeiter, als Obdachloser, als Angestellter bei McDonald’s und im letzten Jahr als Farbiger. Mit oft erschreckenden Erkenntnissen.
Journalistisch gesehen wird Wallraff wohl auch weiterhin für Aubenas ein Idol bleiben. Denn seine Wagnisse waren größer, seine Erkenntnisse spektakulärer. Mehrere Male hat sich Wallraff bei seinen Recherchen sogar in Lebensgefahr begeben. Wallraff selbst schrieb dazu 1985 : „(…) man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden.“ Viele „Opfer“ Wallraffs sehen das anders. Sie fühlen sich hintergangen und getäuscht. Nicht nur die BILD-Zeitung und andere Institutionen haben Klage gegen Wallraff eingereicht, auch der deutsche Presserat hat Wallraff gerügt. Und die Frage nach der Legitimität der Methode ist berechtigt. Im deutschen Pressekodex heißt es: „Journalisten geben sich grundsätzlich zu erkennen.“ Aber es heißt auch: „Verdeckte Recherche ist im Einzelfall gerechtfertigt, wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind.“ Florence Aubenas muss sich über diese Paragraphen eher keinen Kopf zerbrechen. Denn so richtig auf die Füße getreten ist sie niemand.
Florence Aubenas, Quai de Ouistreham, Editions de l'Olivier, 2010
(Foto: flickr/Raging Sociopath)