Frankreich: Sommerende im Bummelzug
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Kuriose Städte und kosmopolitische Orte: Europäer begeben sich auf poetische Sommerspaziergänge.
"Hier ist es am schönsten im September. Das Licht über dem Atlantik scheint viel weicher als im Sommer. Außer ein paar Surfern bleiben nur wir Fischer." Der Sommer hat Spuren auf dem Gesicht des Mannes hinterlassen, der an diesem Morgen vor Sonnenaufgang das kleine Fährboot von Arcachon zum Cap Ferret steuert. Er fährt jeden Tag von der kleinen Hafenstadt zum Cap, Paradies für Surfer und wohlhabende Franzosen. In letzten Jahr machte das Idyll ungewollt im ganzen Land von sich reden, nachdem zwei Urlauber nach dem Verzehr der berühmten Huîtres d’Arcachon das Zeitliche gesegnet hatten. Wenngleich noch immer nicht feststeht, ob ihr Tod auf die exquisiten Meeresfrüchte zurückzuführen war, wurde der Verkauf von Austern damals eingestellt. Eine Katastrophe für die Fischer. Nicht unbedingt finanziell, denn in solchen Fällen werden Entschädigungen an Frankreichs Bauern und Fischer gezahlt. Nein, die Menschen hier fürchten etwas ganz anderes: den schlechten Ruf.
In den Cafés von Arcachon ging es deshalb weniger ausgelassen zu als sonst, aber: "On a connu pire!" Wir haben schon Schlimmeres erlebt, sagen die Fischer beim morgendlichen "café-croissant-canard-clope" (Kaffee-Croissant-Zeitung-Zigarette). Ein Stückchen weiter bieten Obsthändler überreife Melonen an. Für sie gab es keine Dramen in diesem Jahr - nur die Weinbauern sind ein wenig beunruhigt: wegen des vielen Regens in den vergangenen Tagen. Hinter dem kleinen Markt liegt der verschlafene Bahnhof. Die Urlauber nehmen den Bummelzug nach Bordeaux und von dort den Schnellzug oder das Flugzeug.
Um diese Jahreszeit machen auch die Einheimischen mal wieder einen Ausflug in die Hauptstadt der Region Aquitaine. An sonnigen Tagen ist Bordeaux wie Klein-Paris: geschäftig aber nicht hektisch, bürgerlich aber ohne die Pariser Überheblichkeit. Die Herren lesen im Zug die neueste Ausgabe der Sud-Ouest, die zweitgrößte französische Regionalzeitung. Ohne Zeitung, dafür in bester Ausgehgarderobe, steigen an diesem Morgen zwei Rentnerinnen in den Zug. Einen kleinen Abstecher in die Galeries Lafayette wollen sie machen, sich den Place de la Bourse ansehen, der kürzlich frisch gepflastert wurde, mit der neuen Tram fahren und durch die Gassen der Innenstadt schlendern.
Der Zug verlässt den Bahnhof. Er kann kaum an Geschwindigkeit zulegen, hält er doch in unzähligen kleinen Orten. Rechts und links der Trasse werden neue Häuser gebaut. Eine der älteren Damen, die große weiße Ohrclips trägt, kommentiert: "Wie kann man sich sein Haus genau an den Gleisen bauen? Furchtbar!" Grund genug für die beiden Ausflüglerinnen, den chaotischen Zustand der Parti socialiste zu konstatieren, die nach der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen orientierungslos umherzutaumeln scheint. Kein Retter in Sicht unter den grauen Eminenzen der Partei, den Elefanten, wie sie in Frankreich auch genannt werden. Die weißen Ohrclips zählen auf: "Laurent Fabius, Dominique Strauss-Kahn..."
Ihr lautes Gespräch führt zum unerwarteten Einwurf einer jungen Reisenden: "Was ist mit François Hollande, dem Ex-Lebensgefährten von Ségolène? Was halten Sie von ihm?" "Olala...", antwortet die Begleiterin der Ohrclips, mit Dauerwelle und Lederhandtäschchen: "Wissen Sie, ich bin ja für die Arbeiter, aber nicht für Faulenzer. Unter den Linken gibt es nur noch Faulenzer. Kein Wunder, dass andere Nichtstuer in unser Land kommen, den ganzen Tag vor der Glotze hocken und aus Langeweile einen Haufen Kinder machen." Ihre Freundin nickt zustimmend: "Nicolas Sarkozy hat schon recht, wenn er sagt, wir müssen uns von dieser 'racaille', diesem Gesindel, befreien." Die beiden reden so, wie viele hier denken: "Wenn sich diese Leute nicht anpassen wollen, sollen sie gehen. Das Geld, das sie hier verdienen, schicken sie sowieso nach Hause. Wir sehen davon keinen Cent!"
In diesem Moment mischt sich ein anderer Reisender ein: "Ich möchte sie daran erinnern, dass Rassendiskriminierung strafbar ist und bitte sie, solche Bemerkungen zu unterlassen. Meine Eltern kommen aus dem Libanon und sie werden sicher verstehen, dass sie im Augenblick nicht dorthin zurückzukehren können." Ungläubiges Kopfschütteln der Beiden, einige Sekunden Stille. Der junge, gut gekleidete Mann kehrt auf seinen Platz zurück. "Ich frage mich, warum der uns zuhören muss?", fahren die Rentnerinnen fort. "Klar, dass der sich angesprochen fühlt. Hast du gesehen, was für eine Hautfarbe der hatte?"
Der Zug nähert sich Bordeaux. Passagiere sammeln ihre Sachen zusammen. Die junge Frau aus Deutschland schnallt ihren Rucksack auf den Rücken. Die älteren Damen drängen in Richtung Tür. Sie entsteigen dem Zug in die warme Herbstluft, gefolgt von der jungen Frau, die vorsichtig fragt: "Sagen Sie, dürfte ich ein Foto von Ihnen machen? Ich halte zwar nichts von ihren politischen Standpunkten, doch finde ich es wichtig, wie manche Leute hier denken. Wissen sie, ich möchte nämlich Journalistin werden. Vielleicht schreibe ich ja mal einen Artikel über sie beide..."