Frankreich: Die Republik frisst ihre Kinder
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[Kommentar] Frankreich ist im Ausnahmezustand. Das zweite Mal in diesem Jahr. Und das letzte Mal seit 2005. Damals wurde der Ausnahmezustand am 8. November als Antwort auf die Unruhen in Frankreich verhängt. Die Attentäter vom 13. November in Paris haben ihr Blutbad 10 Jahre nach den Unruhen in den französischen Banlieues angerichtet. Zufall?
Damals wurden die Unruhen durch den Tod zweier Jugendlicher aus Einwandererfamilien (Ziad Benna, 17, und Bouna Traroré, 15) ausgelöst. Sie begannen im Heimatort der Jugendlichen, Clichy-sous-Bois, verbreiteten sich aber schnell auf andere Départements um Paris und auch auf andere Städte Frankreichs wie Toulouse und Marseille. In der Nacht wurden Autos und Häuser in Brand gesteckt, es kam zu gewaltvollen Zusammenstößen zwischen der Polizei und den jugendlichen Unruhestiftern.
Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy wollte „mit dem Kärcher das Gesindel“ vertreiben. Französische Terroristen wie Mohammed Merah, die Brüder Kouachi, Ismaël Omar Mostefaï oder Samy Amimour (die letzten beiden waren unter den Attentätern des 13. November in Paris) gehörten damals genau zu der Altersgruppe der Jugendlichen, die die Republik wochenlang in Atem hielt. Amedy Coulibaly, der Geiselnehmer des Hyper Cacher im Januar 2015, wurde im Rahmen eines Integrationsprogramms 2009 sogar dem mittlerweile zum Präsidenten gewählten Nicolas Sarkozy vorgestellt, in der Hoffnung, der Präsident könne ihm eine Arbeitsstelle beschaffen. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Mehr als zu einem Zeitvertrag brachte es Coulibaly nie.
Was ändert sich für die Unruhestifter von gestern?
Viel wurde damals versprochen, wenig geändert, Jugendliche aus sozial benachteiligten Gegenden mit hohem Einwandereranteil blieben weiter ausgegrenzt. Durchschnittlich ist jeder Vierte zwischen 15 und 24 Jahren in Frankreich arbeitslos, im Département Seine-Saint-Denis sogar jeder dritte.
Mehr als 10 000 Personen werden vom französischen Geheimdienst unter der Kategorie S (für sécurite d'état, staatliche Sicherheit; AdR) geführt und überwacht, wie viele der bereits zur Tat geschrittenen Attentäter auch. Genügt es, heute, diese 10 000 Menschen als Kriminelle und Psychopathen zu bezeichnen, denen vom radikalen Islamismus der Kopf verdreht wurde? Genügte es, gestern, die Unruhestifter als „Gesindel“ zu bezeichnen? Genügte es damals, soziale Einrichtungen zu schaffen, die Jugendlichen aber weiter auszugrenzen? Genügt es jetzt, einen Krieg in Syrien zu führen, um einen Elan zu unterdrücken, der aus den eigenen Reihen stammt?
Eine Frage der Perspektive?
Gleich nach den Anschlägen vom letzten Freitag in Paris, die 129 Todesopfer und über 350 Verletzte zählen, wurde wieder gegen Flüchtlinge und Ausländer gehetzt. Denn seien sie auch nicht die Attentäter, so hätten sie doch das Übel zu uns gebracht. Oder nicht? Haben wir es uns vielleicht selbst herangezüchtet? Sind wir wirklich die freie Gesellschaft, für die wir nun den Krieg in Syrien führen wollen?
Und wenn wir den Islamischen Staat dort „platt gemacht“ haben, wie die französische Regierung verkünden lässt, ist das Problem von den 10 000 Personen gelöst, die unter der Akte „potentieller Attentäter“ geführt werden? Und kann dies die Wut von all denjenigen aufhalten, die an die Grenzen dieser Gesellschaft stoßen, weil sie den falschen Nachnamen oder die falsche Adresse haben?
Die Republik bietet einem Teil der Bevölkerung keine Perspektive. Einige sind sogar bereit, die Hoffnungsträger und Talente dieser Republik zu ermorden. Denn das waren sie, die Opfer, junge, bunt durchmischte, vielversprechende und talentierte Menschen - die Zukunft der Republik. Und vielleicht sind die Täter sogar deswegen mordend durch die Straßen gezogen, weil sie gerne an den Plätzen der Menschen gewesen wären, die sie kaltblütig erschossen, ihnen diese Möglichkeit in ihrem Leben aber verschlossen schien. Deswegen wählten sie den Tod aller. Die Republik frisst ihre Kinder. Es ist eine grausame, eine erschreckende Frage, die wir uns im lauten Kriegsgetrommel aber doch ruhig stellen sollten, um morgen, wenn unsere Politiker behaupten, diese Form des Terrors „platt gemacht“ zu haben, nicht aufzuwachen und nur wieder einer neuen Form des Schreckens ins Gesicht blicken zu müssen.