Participate Translate Blank profile picture
Image for Flüchtlingsmigration: Realität vor Ort vs. politischer Diskurs

Flüchtlingsmigration: Realität vor Ort vs. politischer Diskurs

Published on

Translation by:

Lea Zentgraf

Auf der Tagung des Europäischen Rates am 14. und 15. Dezember erörterten die Staats- und Regierungschefs erneut die Migrationspolitik der Europäischen Union. Wir sind daraufhin zu einem Treffen von Flüchtlingshilfswerken gegangen, um herauszufinden, was diejenigen, die tatsächlich jeden Tag vor Ort sind, von alle dem halten. 

Dies ist die Geschichte eines zwanzigjährigen Ivorers. Sein Bruder hatte ihm erzählt, dass man in Europa, in Sizilien, Menschen für die Erntearbeiten auf Tomatenfeldern suche. In seinem Heimatland sind seine Aussichten auf Arbeit gering. Dort zu arbeiten würde ihm neue Möglichkeiten eröffnen – ein Versprechen eines besseren Lebens. Also beschließt der junge Mann, ein Boot zu besteigen und sein Glück zu versuchen. Er ist einer von denen, die es schaffen, die Küsten Italiens zu erreichen. Aber sobald er dort ist, findet er sich eingesperrt in einem Aufnahmecamp für Flüchtlinge wieder. Ihm wird gesagt, dass er "illegal" hier sei, drei Monate darauf wird er wieder nach Hause geschickt.

Wo ist der Haken der Geschichte? Kadri Soova, Anwältin bei PICUM, der internationalen Plattform, die Migranten ohne Papiere unterstützt, erklärt uns: "Es gibt viele Anfragen von Migranten, die in Europa arbeiten wollen, aber es gibt nicht viele legale Kanäle, um ihnen dabei zu helfen.“

Zahlen und Fakten

Während es auf europäischer Ebene schwierig ist, sich ständig über alles zum Thema Migration auf dem Laufenden zu halten, ist das Tempo der Entscheidungsfindung wiederum so langsam, dass es fast unmöglich ist, nicht informiert zu bleiben.

Die jüngsten Diskussionen betreffen die Reform des Dubliner Übereinkommens (DÜ) und die Aussagen von Donald Tusk [Präsident des Europäischen Rates, Anm. d. Red.] über die Verteilung von Migranten nach den vorgeschriebenen Pflichtquoten, die er als ineffektiv bezeichnete. "Avramopoulos [Europäischer Kommissar für Migration, Anm. d. Red.] reagierte daraufhin und sagte, dass diese Position nicht europäisch wäre. Im Moment liegt die Situation auf Eis", bezeugt Arnaud Zacharie. Der Präsident des CNCD 11.11.11, einer der NGOs, die am 13. Dezember in Brüssel die Demonstration für Migrationsgerechtigkeit organisiert haben, fügte hinzu: "Wir sollten weiterdenken als die bisherigen Vereinbarungen des Dubliner Übereinkommens und stattdessen eine gerechte Verteilung fördern".

Die Fraktion mit der stärksten Position im Europäischen Rat wird durch die Länder der Višegrad-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechische Republik und Slowakei) vertreten, die von Anfang an die Umsiedlung von Migranten nach einem "Quoten-System" ablehnte. "Wir hoffen, dass die Länder der Višegrad-Gruppe ihre Positionen nochmal überdenken, wenn es uns gelingt, die irregulären Ströme zu bewältigen", sagte der italienische Staatschef Paolo Gentiloni.

Dem Rat wurden bereits zahlreiche Statistiken vorgelegt, insbesondere durch Federica Mogherini, Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. "Im vergangenen Jahr kehrten 16.000 Menschen aus Libyen in ihr Heimatland zurück. Unser Ziel ist es, in den nächsten zwei Monaten weitere 15.000 zurück zu schicken." Laut Kadri Soova von PICUM dienen diese Zahlen im Allgemeinen jedoch mehr politischen Argumentationen als tatsächliche Ergebnisse zu zeigen: "Das ist eine politische Taktik, um Wahlen zu gewinnen. Konkrete Ergebnisse der politischen Handlungen bestimmen das Ergebnis der Kandidaten". Das allgemeine Gefühl am Ende dieser Ratsperiode ist, dass wir mehr hätten machen können, wir hätten es besser machen können.

„Männer und Frauen, die ein besseres Leben wollen"

Medhi Kassou von der Citizen Support Platform for Refugees (CSPR), die seit 2015 im Maximilian Park in Brüssel arbeitet, um Flüchtlingen zu helfen, erklärt: "Heute erleben wir einen regelrechten Flüchtlingsstrom von Männern und Frauen, die ein besseres Leben wollen. Es gibt jedoch kein bereits entwickeltes Verfahren, keinen vorgeformten Weg. Daher gibt es keine Lösung für sie, keine gezielte Unterstützung.“ Arnaud Zacharie vom CNCD fügt hinzu: "Auf europäischer Ebene gibt es wiederum eine Migrationspolitik, die die wirtschaftliche Einwanderung als Problem betrachtet".

Kadri Soovas Meinung geht in die gleiche Richtung: "Wir brauchen eine langfristige Lösung des Problems. Derzeit ist alles darauf ausgerichtet, auf unmittelbare Probleme zu reagieren, um im Alltag weniger Migranten um uns herum zu sehen. Das ist aber eine kurzfristig gedachte Politik. Dies ist eine beunruhigende Situation, da die Menschenrechte gefährdet sind. Sich nur auf die Abschiebungsrate zu konzentrieren, löst das Problem nicht. Politiker müssen pragmatischer sein und sich nicht nur auf Zahlen konzentrieren." Für Medhi scheint auch der Humanismus schwächer zu werden: "Es ist als ob Europa mehr und mehr zu einem Ort ohne Menschlichkeit wird. Ich hoffe, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas bereit sind genauso viel Herzblut zu geben, wie wir es heute hier in Belgien tun".

Rückführungsprozesse extrem fragwürdig

Bezüglich der Problematik von Flüchtlingsrückführungen diskutierten wir mit Verbänden darüber, was im vergangenen September in Belgien passierte: Eine sudanesische Delegation wurde vom Staatssekretär für Asyl und Migration, Theo Francken, eingeladen, eine Gruppe von Migranten in Belgien tu treffen, illegale Flüchtlinge zu identifizieren und diese mit zurück in den Sudan zu nehmen. Medhi Kassou kommentierte die Situation: "Ich finde den Prozess in Form und Inhalt besonders unfair. Einige bereits integrierte Menschen haben bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie lieber Selbstmord begehen, als zurück in den Sudan zu gehen." Während Kadri Soova weiterhin über die Legitimität dieser isolierten Aktion rätselt, stellen sich ernsthafte Fragen über die generelle Legitimität und Rechtmäßigkeit solcher Missionen. Wie können wir sicher sein, dass das Identifikationsteam die erforderlichen Fähigkeiten besitzt und wirklich unabhängig ist? Es besteht ein großer Druck "Ergebnisse zu erzielen", was zu unfairen Verfahren und Ergebnissen für die betroffenen Personen führen kann.

Was kann man heute von der Europäischen Union erwarten?

"Wir möchten, dass europäische Politiker den Mut haben, eine langfristige, ganzheitliche Sichtweise der Migration zu entwickeln, die auf wirtschaftlichen Realitäten, demografischen Veränderungen und der Achtung der Rechte aller Individuen beruht", sagte PICUM. "Meine einzige Forderung ist sicherzustellen, dass alle, wenn sie europäischen Grund und Boden betreten, egal ob Minderjähriger, Afrikaner, Schwarzer, Muslim, Buddhist, was auch immer…dass sie zumindest Zugang zu Nahrung, einem Dach über dem Kopf und zu Informationen und Antworten bezüglich ihrer rechtlichen Situation haben. Nur so hat der Mensch die Möglichkeit, die Welt in der er sich befindet zu verstehen.", sagt Medhi von der CSPR.

Die Europäische Kommission hat eine neue Verordnung über das Dubliner Übereinkommen, einschließlich des Endes der obligatorischen Standortverlagerungen, für Juni 2018 angesetzt. Bis März 2018 könnten einige Elemente des Reformpakets bereits beschlossen werden. Im Frühjahr werden wir also sehen, ob diese Versprechen tatsächlich eingehalten werden.

---

Zu diesem Artikel trugen bei: Alexandre Decoster und Isaure Magnien

Translated from Migration : la réalité du terrain face aux discours